Kapitel 6

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Dezember 2015

Ich hatte absolut keine Motivation, dem Unterricht zu folgen

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Ich hatte absolut keine Motivation, dem Unterricht zu folgen. Eigentlich wollte ich nur meine Zeit absitzen, aber ich wusste genau so gut wie gestern, dass mir das eine Menge an Ärger einhandeln würde. Trotzdem zeichnete ich weiter an der Idee, die mir gestern Vormittag gekommen war. Ich liebte das. Einfach zu zeichnen, was mir in den Sinn kam. Nicht nachzudenken, mich nicht nach dem Sinn oder irgendwelchen Formeln fragen zu müssen, sondern bloß diese scheinbar simplen Bewegungen mit meiner Hand auszuführen.

Nach dem Pausengong lief ich schnurstracks in die Bibliothek, denn falls ich vor vier Uhr nachmittags zu Hause aufkreuzen würde, wäre es unumgänglich, von Ellen zum Schlittschuhlaufen gezwungen zu werden. Das war Matts und Ellens Tradition, weshalb mein Dad heute ganz zufällig länger im Büro bleiben musste. Und ich? Ich würde meinen Nachmittag hier verbringen. Zwischen hohen Regalen voll von wunderbaren Büchern und in aller Stille.

Seufzend setzte ich mich an einen langen Tisch aus rustikalem Holz. Statt der Hausaufgaben kramte ich meinen Zeichenblock hervor und machte mich wieder an die Arbeit. Dem Mädchen auf meinem Papier fehlte noch ein wenig Struktur in den Haaren. Es brauchte noch ein bisschen Schattierung unter ihren Augen, weil sie sich nicht schminkte, und ein paar fast verblasste Sommersprossen.

„Hallo"

Abrupt drehte ich meinen Zeichenblock um und guckte hoch, geradewegs in das ernste Gesicht des Mädchens, das ich vor einer Woche um Nachhilfe gebeten hatte. Ihre Winterjacke war dunkelblau und mit großen Knöpfen versehen, und unter der weißen Mütze in grobem Strickmuster lugten ihre Haare hervor. Noch waren ihre Wangen von der Kälte gerötet, ebenso wie ihre zartrosa Lippen.

„Was machst du so?", fragte sie und wippte unruhig auf ihren Fußballen auf und ab.

„Ich entfliehe meiner Familie.", erwiderte ich trocken. „Und du?"

„Bus verpasst." Jetzt stand sie still. „Ist deine Familie so schlimm?"

„Schlimmer als das." Ich verzog den Mund.

Sie nickte bedächtig, ehe sie wieder dazu ansetzte, etwas zu sagen. „Ich habe über dein Angebot nachgedacht."

Erstaunt hob ich die Brauen. Sie sollte ruhig wissen, dass ich nicht mehr mit einer positiven Antwort gerechnet hatte.

„Ich habe mich gefragt, wie du das mit ..." Nun beugte sie sich ein Stückweit nach vorne, damit uns niemand hören konnte. „ ... Ethan anstellen möchtest."

„Mich würde etwas ganz anderes interessieren.", entgegnete ich selbstbewusst.

Sie presste ihre Lippen zusammen, während sie mich abschätzend musterte.

„Woher kommt der Sinneswandel, Prinzessin? Hast du mich nicht vor ein paar Tagen noch für einen Mörder gehalten?" Ich konnte mir ein überhebliches Grinsen nicht verkneifen.

Einhundert Meilen von dir entferntWo Geschichten leben. Entdecke jetzt