Eins

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„Eine Fahrkarte, bitte."

„Wo soll's denn hingehen, junge Dame?" Der alte Mann auf der anderen Seite des Tresens musterte mich mit einem argwöhnischen Blick. In meiner linken Hand hatte ich den kleinen, schwarzen Rollkoffer, mit der anderen umklammerte ich das Geld für mein Zugticket. Auf meinem Rücken trug ich den schweren Gitarrenkoffer. Ich zog herausfordernd eine Augenbraue hoch und grinste ihn freundlich an. „Wie weit komme ich denn hiermit?", fragte ich unschuldig und zeigte ihm den Geldschein in meiner Hand.

„Nicht so weit, wie Ihnen lieb wäre, das kann ich schon mal sagen. Warten Sie einen Augenblick." Er lächelte freundlich. Erst jetzt fiel mir auf, dass er einen östlichen Akzent hatte. Von seiner Schläfe bis zu seinem Kinn zog sich eine lange, tiefe Narbe, die bedrohlich rot wirkte, als der Mann sein Gesicht dem Bildschirm zuwandte. Ich bemühte mich, nicht genau auf die Narbe zu starren, was tatsächlich nicht so schwer war, wie ich eigentlich erwartet hatte, schließlich hatte ich meine eigenen Probleme und Gedanken.
„Also ich kann Ihnen eine Fahrkarte anbieten, die Sie an die südliche Küste befördert. Von dort können Sie das Meer und seine unzähligen Inseln erforschen, dort ist die Atmosphäre anders, als hier in der Stadt. " Er deutete auf die Landkarte vor ihm auf dem Tisch.

„Danke, ", erwiderte ich monoton, „das wäre perfekt." Sein Blick füllte sich wieder mit Skepsis, meine Antwort schien etwas zu sarkastisch zu klingen. Ich lächelte entschuldigend und schob ihm den Geldschein hinüber, den er wortlos annahm und das druckfrische Ticket überreichte. „Danke, dass Sie sich für unseren Service entschieden haben", sagte er mit einer Monotonie, die kaum jemand so perfekt hätte rüberbringen können, wie er, musterte mich ein letztes Mal und reichte mir dann ein paar kleine Münzen als Wechselgeld, welches ich allerdings liegen ließ und mich umdrehte. „Und viel Glück."

Ich betrachtete das Ticket stumm, nachdem ich mich verabschiedet habe und nun etwas verwirrt auf dem Bahnhof herumstand. Gleis siebzehn, Abfahrt 14:49 Uhr, geplante Ankunft 01:32 Uhr, erste Klasse, Preis... ich stocke kurz. Erste Klasse? Und der Preis war höher, als das, was ich bezahlt hatte und zwar um einiges... Der Mann muss das wohl einfach geändert haben. Vielen Dank.

Ich begebe mich also zu Gleis siebzehn und setze mich auf eine der Bänke, die am wenigsten versifft aussehen. Es ist schon 14:25 Uhr, also fährt der Zug schon in vierundzwanzig Minuten. Bis auf mich ist das Gleis menschenleer. Ein paar Tauben fliegen gelegentlich vorbei, aber die stören mich wenig.
Die Wohnung ist verlassen, ich habe nur das Wichtigste eingepackt. Die Gitarre, ein bisschen Geld, ein paar Klamotten und viele Erinnerungsstücke. Ansonsten auch noch ein paar Alltagsgegenstände, die ich mit Sicherheit brauchen werde. Weder ein Handy, noch ein anderes Objekt, mit dem man mich so mir nichts, dir nichts hätte erreichen können, habe ich eingepackt. Aber ich habe die kalte Pizza vom gestrigen Abend in einer Brotdose ebenfalls eingepackt. Eigentlich mag ich die Pizza nicht besonders, aber es war seine Lieblingspizza. Ich spüre den Stich in meinem Herzen zurückkommen, ich kann so nicht weiter machen. Meine Hände halten das Ticket noch fester und mein von Tränen schon leicht verschwommener Blick richtet sich darauf. Umstiege drei. Recht wenige, wie ich feststellen muss. Die sind alle kurz vor der Küste, also kann ich auch gleich im Zug etwas schlafen. Seit Wochen habe ich keine Nacht mehr durchgeschlafen, sondern bin im Stundentakt wieder aufgewacht. Ich bin nicht auf die Arbeit gegangen, habe vielleicht zwei oder drei Male geduscht, ein weiteres Mal heute Morgen. Es ist an der Zeit aufzubrechen. Ich würde hier verkommen, Sonnenlicht und andere Menschen habe ich nur noch gesehen, als ich die Tür aufgemacht habe, um meine bestellten Lebensmittel entgegenzunehmen. Mein letztes Geld steckt in diesem Ticket. Ich hoffe nur, dass mir dieses Ticket auch weiterhelfen wird.

Ein langer, schneeweißer Zug fährt in den Bahnhof ein. In der Mitte ziert ein breiter Streifen den Zug, von der Spitze bis zum Ende. Er ist regenbogenfarben, was mir ein ehrliches Lächeln auf die Lippen zaubert. Eine Handvoll Leute verlässt den Zug und ich steige daraufhin ein. Die erste Klasse befindet an dem Ende des Zuges, das bei der Weiterfahrt nun vorne sein würde. Ich laufe also einmal durch den kompletten Zug, bis ich die erste Klasse erreicht habe. Bevor ich mich auf einen Sitz fallen lasse, lege ich den Gitarrenkoffer auf den Sitz daneben und stelle den Koffer vor diesen Sitz. Meine Stirn sinkt langsam an die kühle Fensterscheibe und meine Augen schließen sich. Ein Schauer überfährt meinen Rücken und ich vergrabe meine Hände und mein Kinn tiefer in dem viel zu großen Hoodie, den ich trage. Er riecht noch immer leicht nach Rauch und ist noch immer so weich, obwohl ich ihn in den letzten Wochen meiner Einsamkeit eigentlich ständig getragen habe. Die große Bauchtasche beherbergt ein kleines Foto. Ein Foto von mir. Ein Foto mit meiner Gitarre. Ein Foto von unserem ersten Date. Ich sehe so konzentriert aus, obwohl ich mich nur darauf konzentriert hatte, nicht zu zittern, zu stottern, mich zu blamieren oder zu starren.

„Ein letztes Mal pustete er den Qualm in die kalte Luft. Er trat von der offenen Balkontür zurück und schloss sie dann. Routiniert drückte er seinen Zigarettenstummel in dem gläsernen Aschenbecher aus. Ich beobachtete seine Augen, die darauf bedacht waren, dass die Zigarette komplett ausging, beobachtete seine Hand, groß, mit langen dünnen Fingern und beobachtete seine Brust, die sich mit den tiefen Atemzügen hob und senkte. Bedeckt war sie von einem grauen Hoodie mit weißen Schriftzeichen. Sein Blick wanderte zu mir und ich spürte wie mir das Blut in die Wangen schoss. Angespannt starrte ich auf meine Finger, die kalt und bleich um den Gitarrenhals klammerten. „Hab keine Angst, du kannst das." Sein warmherziges Lächeln ermutigte mich. Ich fühlte mich für eine Sekunde so, als könnte ich alles schaffen, wenn er nur in meiner Nähe ist. Seine Augen... oh Gott, ich würde am liebsten nie wieder wegsehen, sie sind so schön. Dieses Grün. Dieses strahlende grün. Er sieht immer glücklich aus. Seine dunkelbraunen Haare sind perfekt frisiert und... warte. Roch ich da Parfum unter dem Rauchgeruch? Er riecht göttlich! Mein Herz schlägt mir bis zum Hals und meine Hände zittern leicht. Ich bin so nervös. Was, wenn ich es nicht schaffe? Was, wenn ich ihn enttäusche?
„Warte kurz." Er stand auf und kramte aus einem Schrank eine Sofortbildkamera heraus und setzte sich dann neben mich. „Lach mal", sagte er und drückte kurz darauf ab. Dann hielt er das Bild vor sich und wedelte es hin und her. „Auf diesem Bild ist dein Lampenfieber jetzt festgehalten, wie in einem Gefängnis. Also kannst du jetzt spielen." Er brachte mich zum Grinsen. Ständig. Ich fing an zu spielen, zögerlich und versuchte akribisch, keinen falschen Akkord anzuschlagen. Das Sofapolster hob sich leicht, als er aufstand und sich vor mich stellte. Der Blitz der Kamera ging an und ich erschrak. Er grinste nur und entschuldigte sich damit, dass sie manchmal einfach so auslöste. Ich wusste nicht, dass er ein Bild von mir gemacht hatte, aber das wäre mir auch egal gewesen. Er hätte alles tun können und es wäre mir egal gewesen. Ich liebe ihn."

Die Erinnerung tut mir weh. Sie wühlt mich auf und löst die komplette Spannung, die sich in den letzten Wochen aufgebaut hat. Der Knoten in meinem Herz lockert sich und es beginnt zu bluten. Es schmerzt, dass es nur eine Erinnerung ist. Der Saum des Hoodies wird langsam feucht. Zum ersten Mal kann ich wieder richtig weinen.

Zum ersten Mal, seitdem mein Verlobter vor 4 Wochen bei einem Autounfall verunglückt ist. 

ChancesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt