Sechs

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„Was ist so witzig?"

Rose und Rowan hören schlagartig auf zu lachen und legen eine ernste Miene auf. Rowan räuspert sich und versucht sich zu erklären: „Also wir... eh wir..." Aber ihm fällt nichts ein. „Charlot hat einen hervorragenden Witz erzählt", rettet Rose ihren Kollegen schnell. Dacio White ist wie aus dem Nichts hinter uns aufgetaucht und offenbar soll er nicht den wahren Grund ihres Gelächters herausfinden. Das Problem ist, dass er sich nun, mit aufgesetzter Freundlichkeit, an mich wendet: „Würdest du mir den Witz auch erzählen?" Das bringt mich wiederum in Ausredenmangel.

„Ehm...", stottere ich also unsicher los „ich weiß nicht, ob ich ihn noch einmal so gut rüberbringen kann." Es hört sich sogar in meinen eigenen Ohren vielmehr wie eine Frage als eine Aussage an. Auch Dacio White sieht mich wenig überzeugt an und sagt schlicht „Versuch es".

„Sagt der eine Ballon zum anderen: Du, ich glaube ich habe Platzangst", erzähle ich ihm kurzerhand den ersten Witz, der mir in den Sinn kommt. Skeptisch hebt er eine Augenbraue und sieht zwischen uns Dreien hin und her. Vermutlich findet er es unglaubwürdig, dass Rowan und Rose diesen schlechten Witz so lustig fanden. Trotzdem lächelt er kurz belustigt, vermutlich um mich nicht zu kränken. Das Lächeln steht ihm. Ansonsten sieht er noch um einiges besser, beziehungsweise gepflegter aus, als gestern. Er trägt eine schwarze Anzughose, darüber ein weißes Hemd und eine rote Krawatte. Seine Hände sind lässig in seinen Hosentaschen vergraben, aber das ist das Einzige, was nicht förmlich ist wie eh und je.

„Du siehst gut aus. Aber ich würde dich bitten auf die Klamotten aufzupassen, da ich die Konsequenzen tragen muss, falls sie beschädigt werden. Wir gehen morgen einkaufen, dann kannst du dir deine Kleidung selbst auswählen. Ich werde für jegliche Kosten selbstverständlich aufkommen", sagt er beiläufig zu mir, ehe er sich an Rowan wendet. „Kinney, ich erwarte dich in zehn Minuten mit dem Bentley vor dem Haupteingang." Rowan nickt stumm und dreht sich dann um und läuft aus dem Raum hinaus. Rowan Kinney also. Aber aus welchem Grund genau nennt Dacio ihn bei seinem Nachnamen? Ist ihr Arbeitsverhältnis so streng?

Dacio schenkt mir noch ein warmherziges Lächeln, bevor er in dieselbe Richtung wie Rowan verschwindet. Verwirrt blicke ich Rose an. Sie lächelt nur kurz, bevor sie schnell ihr Handy rausholt und Etwas eintippt. Ohne sie weiter zu beachten, da sie beschäftigt zu sein scheint, beginne ich langsam mir ein Brötchen mit Margarine zu beschmieren und dann eine Scheibe Salami daraufzulegen. Ich habe seit gestern Nachmittag nichts mehr gegessen, deswegen bin ich ziemlich hungrig. Folglich esse ich insgesamt zweieinhalb Brötchen. Seit ich hier bin esse ich zum ersten Mal seit Wochen keine Fertiggerichte, oder bestelltes Essen.

Nach dem ich gegessen habe, räume ich schnell das benutzte Geschirr zusammen und nehme so viel ich tragen kann und fordere Rose auf, das Gleiche zu tun. Dann frage ich sie, wohin es zur Küche geht, weil ich wirklich nicht den geringsten Überblick in diesem riesigen Haus habe. Also noch nicht. Gemeinsam bringen wir alles zurück in die Küche und Lucia sieht deshalb ziemlich erleichtert und dankbar aus. Sie unterhält sich ein wenig mit Rose in ihrer Sprache, bevor sie auch ein paar Worte an mich richtet, die so viel bedeuten wie „Vielen Dank, aber das wäre nicht nötig gewesen", wie Rose mir übersetzt, als wir die Küche wieder verlassen haben.

„Und was machen wir jetzt den ganzen Tag?", frage ich Rose gähnend, als wie wieder im Esszimmer stehen. Sie scheint kurz zu überlegen, bevor ihr wieder ihr Auftrag einfällt. „Ich werde dich erst einmal rumführen, dann werde ich dir ein paar Grundlagen dieser Sprache beibringen. Du kannst mich übrigens alles fragen, was dir in den Sinn kommt. Dacio hat mich für dich verantwortlich gemacht, solange er nicht da ist."

„Rowan und du, als was hat er euch angestellt?", frage ich sie, weil Dacio uns vorhin unterbrochen hat, bevor ich diese Frage stellen konnte. Nun interessiert mich die Antwort natürlich mehr denn je.

„Wir? Wir sind seine Bodyguards. Obwohl das eigentlich übertrieben ist, er kann auch sehr gut auf sich selbst aufpassen, aber in seiner Branche, oder eher seine Gehaltsklasse ist es vermutlich besser immer jemanden bei sich zu haben. Außerdem erledigen wir auch mal kleinere Dinge für ihn, wie ihn zum Beispiel zu seinen Terminen zu fahren", sie deutet beiläufig auf die Tür, durch die Rowan und Dacio vorhin verschwunden sind. „Aber du brauchst dir keine Sorgen zu machen, niemand wird versuchen dich umzubringen. Ich bin ja nicht nur dafür hier, sondern hauptsächlich um dir zu helfen dich besser einzuleben."

„Okay...", sage ich zögerlich. Es kommt irgendwie überraschend, dass eine so kleine und zärtliche Person wie Rose ein Bodyguard sein könnte. Sie bemerkt vermutlich meinen Blick, der sie erneut gemustert hat. „Ich könnte sogar gegen jemanden wie Rowan ankommen, aber leider kennt er alle meine Schwächen." Ich nicke daraufhin entschuldigend, aber Rose scheint mir das Vorurteil nicht einmal zu verübeln. „Alle halten mich für schwach, das erbringt mir Vorteile und macht mich unscheinbar. Rowan hingegen wird als Erster angegriffen, da er die größte Bedrohung zu sein scheint. Ich bin schnell und geschickt, er ist einfach nur stark und unberechenbar. Deswegen sind wir ein unschlagbares Team." Ich nicke erneut, diesmal verstehend. Natürlich, so wie sie es mir schildert, macht es Sinn.

Rose führt mich etwa eine Stunde durch das Haus. Ich zähle vier große Badezimmer, fünf Schlafzimmer, wobei sie mir das von Dacio nicht gezeigt hat, die große Küche, die ich ja schon kenne, sowie das Esszimmer, eine riesige Bibliothek, drei Arbeitszimmer, drei Abstellkammern, den Dachboden, der auch als Abstellkammer dient – aber komischer Weise sind alle Abstellkammern blitzblank und aufgeräumt – und zuletzt noch eine riesige Tiefgarage unter dem Haus mit allerlei teuren Autos. BMW, Mercedes, Bentley, Bugatti – nur das Teuerste vom Teuersten. Danach zeigt sie mir noch einen schmalen Flur, der mindestens zehn Türen beherbergt. Dort schlafen die Angestellten, erfahre ich.

Ausnahmslos jeder Raum ist in einem eigenen Stil gehalten, zum Teil in einem bestimmten Farbschema oder nach dem Vorbild eines bestimmten Landes oder einer bestimmten Stadt. Manchmal sind sie topmodern eingerichtet, aber zum Teil entdecke ich auch antike Möbel und Antiquitäten. Entweder hat Dacio einen hervorragenden Geschmack was seine Inneneinrichtung angeht, oder was seine Inneneinrichter angeht. Aber egal wer für die Einrichtung gesorgt hat, er oder sie hat es wirklich verdammt gut gemacht.

„Das wäre dann so weit das Haus", erklärt Rose, als wir die Treppe wieder hinaufgehen, die in den Keller führt. „Ich denke, du willst bestimmt duschen. Wenn du willst gebe ich dir Handtücher und Shampoo von mir, ihr geht ja morgen einkaufen, dann kannst du dir eigenes mitbringen", schlägt sie lächelnd vor und ich nehme ihr Angebot dankend an. „Eine Dusche wäre großartig."

Sie führt mich in eines der Bäder, eines, das in der Nähe zu dem Schlafzimmer ist, in welchem ich die letzte Nacht verbracht habe. Während Rose mir dann Shampoo und Duschbad holen geht, hole ich mir schnell ein Top und eine kurze, lockere Hose aus meinem Koffer. Alleine im Bad stelle ich mich vor den Spiegel und sehe mich an. Ich habe nicht bemerkt, wie lang meine Haare geworden sind, seit dem Unfall. Meine Haut ist viel heller geworden und meine Augen sind trüb und glänzen nicht mehr.

Ich spüre wie sich schon wieder Tränen in meinen Augen bilden. Es tut weh, so sehr vermisse ich ihn. Manchmal wünsche ich mir einfach nur, dass ich bei dem Unfall gestorben wäre, anstatt er. Ich will einfach nur, dass er wieder am Leben ist. Jetzt bin ich nur noch hilflos und allein, nicht fähig, jemals wieder so glücklich zu werden, wie ich es mit ihm war. Weinend steige ich in die Dusche und lasse das warme Wasser meine Tränen wegspülen. Weder Dacio, noch Rose oder Rowan sollen mitbekommen, dass ich weine, geschweige denn aus welchem Grund.  

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