Zwei

10 1 0
                                    

Die Zugfahrt entspannt mich. Das gleichmäßige Geräusch des Zuges und der Gleise, der Sonnenuntergang und die ruhige Landschaft lenken mich hervorragend ab. Ich habe fast meine gesamte Körperflüssigkeit beim Weinen verloren, danach war ich so erschöpft das ich einige Stunden geschlafen habe und nun ist es schon tiefste Nacht. Der Vollmond hat mich geweckt.

Mein Abteil ist weiterhin wie leergefegt, also beschließe ich, meine Gitarre auszupacken und ein wenig zu spielen. Zunächst spiele ich einfache Lieder und summe ein wenig vor mich hin. Bald werden es emotionale Balladen, bei denen ich aber erstaunlich ruhig bleibe. Der Klang der Saiten durchdringt mich und hält mich ruhig. Irgendwann fällt mir dann die Melodie ein, die wir vor zwei Jahren zum ersten Mal im Kopf gehabt hatten. Locker und leicht, aber melodisch und angenehm, wie kleine Schäfchen, die als Wolken über den Himmel springen. Ich liebte die Melodie schon damals. Er hatte angefangen an einem Text zu arbeiten, aber er wurde nie fertig.

Irgendwann gegen zwei Uhr morgens kommt der Zug dann an seinem Zielbahnhof an. Ich packe die Gitarre weg und steige aus. Es ist recht dunkel, trotz dessen, dass ich mich an einem Bahnhof befinde. Es sind nicht viele Menschen unterwegs, das Licht ist gedämpft und die meisten Läden und Snackbars haben geschlossen. Ich muss mich nun erst einmal nach einer Unterkunft umsehen, da ich mich hier nicht einfach mitten auf den Bahnhof legen kann, um zu schlafen. Unentschlossen verlasse ich den Bahnhof. Ich fühle mich besser, als zuhause, so viel ist sicher, aber trotzdem steigen nun erste Zweifel in mir auf. Ich verstehe die Sprache hier nicht geschweige denn, dass ich hier Leute kenne, Geld besitze oder irgendeine Ahnung habe, wie es weiter geht. Als ich vor die breiten, gläsernen Tore trete, die mit vergoldetem Metall viel edler wirken, spüre ich schwere Regentropfen auf meiner Haut. Es ist zwar angenehm warm, aber nichtsdestotrotz läuft mir ein Schauer über die nackten Arme. Scheint so, als müsste ich nun doch innerhalb der Bahnhof Mauern schlafen.

Ich erwachte am nächsten Morgen durch laute Stimmen und ein Rütteln an meiner Schulter. Erkennen konnte ich erst etwas, nachdem ich mehrere Male verschwommen geblinzelt hatte. Vor mir stehen zwei große Männer mit dunklen Haaren und dunkler Haut, gekleidet in eine Uniform. Der eine versucht vergeblich eine kleine, ältere Dame zu beruhigen, die aufgebracht gestikuliert und in einer mir fremden Sprache herumwetterte. Sein Kollege hockt vor mir und rüttelt mir an der Schulter, um mich zu wecken. Nun da er sein Ziel erreicht hat, steht er auf und wendet sich den beiden Diskutierenden zu. Deren Aufmerksamkeit landet dann ganz schnell bei mir und die ältere Dame wettert dann auch noch plötzlich gegen mich. Sie wirft mit Worten um sich, deren Bedeutung ich nicht verstehe, doch deren Bedeutung ich mir dennoch erschließen kann. Die zwei Ordner kriegen sie glücklicherweise recht schnell ruhiggestellt, aber dann beginnen auch sie in der fremden Sprache auf mich einzureden. Zwar sind sie um Längen diplomatischer dabei, aber verstehen kann ich sie dadurch noch lange nicht. Scheinbar bemerken die beiden aber erst recht spät, dass ich ihre Sprache nicht spreche, denn es dauert einige Minuten, bis sie mir dann visuell verdeutlichen, dass ich bitte aufstehen solle. Ich bemühte mich darum, möglichst schnell aufzustehen, um die kleine, wütende Frau nicht weiter zu verärgern. Doch trotz dessen plustert ebenjene sich direkt wieder auf, drängt sich zwischen die zwei Beamten und beschimpft mich wieder und zeigt immer und immer wieder in Richtung des Ausgangs. Ich nicke und will auch meine Sachen nehmen und gehen, doch die beiden Männer bedeuten mir, erst einmal zu warten. Nachdem sie die alte Dame erneut beruhigt und nun auch endlich weggeschickt haben, widmen sie sich mir. Durch Zeichensprache vermitteln sie mir, dass ich hier nicht bleiben, geschweigen denn einfach so schlafen könne. Sie zeigen zum Ausgang und verabschieden sich, bevor sie weiter ihrer Wege gehen.

Stunden sind vorüber gegangen und jetzt sitze ich mit meiner Gitarre in der prallen Mittagssonne. Ich habe einen ziemlich belebten Platz gefunden, rundherum befinden sich Cafés und Restaurants, viele Menschen hetzen sich von einem Ort zum nächsten und mittendrin sitze ich. Ich habe ein paar Lieder gespielt, habe gesungen, habe tatsächlich auch ein wenig Geld bekommen, aber lange nicht genügend für ein gutes Essen. Ich schwitze, immerhin ist es sehr heiß, und mein Magen hatte vor etwa einer halben Stunde mit Knurren begonnen.

Plötzlich kommt, zwischen all den Menschen, ein kleiner Junge von etwa elf Jahren auf mich zugelaufen und stellt sich direkt vor mich. Er ist unsicher, traut sich nicht, mit mir zu sprechen, doch dann setzt er an. Bevor er viel reden kann, verdeutliche ich ihm, dass ich nicht erfassen kann, was er sagt. Daraufhin reicht er mir seine Hand. Auf meinen verwirrten Blick hin macht er eine einladende Handbewegung, woraufhin ich ihn nur weiter verwirrt anblicke. Der Kleine versteht schnell und reibt dann seinen Bauch mit der einen und zeigt mit dem Zeigefinger der anderen Hand auf seinen offenen Mund, um mir zu verstehen zu geben, dass er etwas zu essen für mich hat. Nickend beginne ich damit, schnell meine Sachen zusammen zu packen und stehe dann auf, um dem Jungen zu folgen. Gerne hätte ich ihm Fragen gestellt, aber ich kann nicht mehr tun, als ihm schweigend hinterherzulaufen. Er führt mich weg von der Menschenmenge, wir laufen durch breite und schmale Straßen, die Häuser sehen mal teurer und mal einfacher aus, doch bald schon verläuft sich die volle Stadt in vereinzelte Gebäude, größere Gärten und ländlichere Straßen. Mein Magen knurrt lauter und der Vorangehende deutet auf das Ende der Straße, was wohl heißen soll, dass wir bald da sind.

Bald stehen wir vor einem gigantischen, schlossartigen Haus. Meine Augen werden groß und der Junge hat mich schnell abgehängt. Ich stehe noch halb im Garten und lasse meinen Blick über die tausenden und abertausenden, farbenfrohen, außergewöhnlichen und exotischen Pflanzen gleiten. Durch den Garten führt ein hellgrau gepflasterter Weg, der sich ab und an in dünnere Pfade abspaltet, damit auch jeder Teil des Gartens erreicht werden kann. Das Haus selbst ist riesig. Noch nie habe ich so etwas Prunkvolles gesehen. Der Kleine pfeift einmal kurz und laut, er steht an einer Ecke des Hauses und winkt mich zu sich herüber. Ich folge ihm um das Haus herum und durch eine Hintertür in das Haus hinein. Die Treppen, die wir hinuntergegangen sind, verleiten mich zu der Annahme, dass wir uns im Keller des Hauses befinden. Wir stehen nun in einer großen Küche und ehe ich mich versehe ist der kleine Junge neben mir verschwunden und redet schnell und aufgeregt mit einer Frau im mittleren Alter, die konzentriert Gemüse schneidet und ihm aufmerksam zuhört. Ihr Blick wandert zu mir und sie schaut mich misstrauisch an. Der kleine Braunhaarige erzählt ungehalten weiter, bis die Frau sich geschlagen gibt und einmal kurz nickt. Der Junge freut sich und springt zu mir. Seine hellen braunen Augen glitzern mich an und er zeigt auf sich selbst. „Alessio."
Dann deutet er auf seine Mutter. „Mama." Sie korrigiert ihn lächelnd: „Lucia."
Danach deutet er auf mich. Lächelnd antworte ich ihm.

„Charlot."

Ich versuche Lucia so gut es geht zu helfen. Ich schneide Fleisch und das restliche Gemüse, während sie nach den anderen Zutaten sieht. Nach weniger als zwanzig Minuten verteilt sie das Essen dann auf vier Teller. Einen davon stellt sie in den Ofen, damit das Essen warm bleibt, zwei reicht sie mir und Alessio und den letzten nimmt sie sich selbst. Das Essen schmeckt köstlich. Total anders, als zuhause, aber trotzdem hervorragend. Nachdem wir gegessen haben, helfe ich Lucia, das schmutzige Geschirr abzuwaschen. Unerwartet ertönt dann eine Stimme. Sie kommt von einer anderen Treppe, als der, von der wir hineingelangt waren. Eine sanfte, tiefe Stimme, schnell und bestimmt. Auf einmal wurde es wieder still. Ein großer Mann betritt den Raum, er ist gerade dabei sein Handy wegzupacken. Sein dunkles, kurzes Haar ist ordentlich frisiert, seine himmelblauen Augen sind klar und wirken ehrlich und rein.
Als er mich bemerkt, verfinstert sich sein Blick und seine vorher noch so ruhige Stimme, donnert laut und gefährlich gegen Lucia. Ich hoffe, ich habe sie nicht in Schwierigkeiten gebracht, auch wenn es sich ganz genau so anhört. 

ChancesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt