an alle, die viel zu früh verlassen wurden
「 Annie lebt 」
DER Officer legt ihr eine graue Wolldecke um die Schultern.
"Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?", fragt er und rückt sich nervös den Hut zurecht.
Sie werden bald mit der Befragung beginnen müssen, Annie weiß es. Doch sie versucht nicht daran zu denken, stattdessen denkt sie an "Sherlock" und will am Liebsten schreien: 'Ich stehe unter Schock, sehen Sie nicht, ich habe eine Decke!'
Hinter ihr stapft ein jüngerer Mann mit nassen Hosen und matschigen Gummistiefeln zu einem der Autos. "Was für ein beschissener Brief", brummt er und tütet das bereits in Mitleidenschaft gezogene Schriftstück vorsichtig ein. Als habe er Annie und den Officer erst jetzt bemerkt, schaut er nach oben und murmelt mit geröteten Wangen: "Tut mir leid, Miss. Das war unangebracht".
Sein Vorgesetzter funkelt ihn nur entsetzt an und beobachtet den jungen Mann auf seinem Weg zu einem der nebenstehenden Autos. Man wird Verstärkung rufen müssen. Zur Entsorgung der Leiche.
Der junge Mann verschwindet im Schatten eines Baums und die Aufmerksamkeit des Officers verlagert sich vorerst wieder auf Annie. Er wird mit einfachen Fragen beginnen und hofft, sie so bei sich zu behalten. Ihre Augen sind so leer.
Er kniet sich hin, sodass sie auf Augenhöhe sind. Annies Füße baumeln aus dem Auto, ihr Gewicht lehnt gegen die geöffnete Tür des Polizeiwagens.
"Miss, Sie haben ihn im See gefunden. richtig?".
Annie antwortet nicht, ihre Füße baumeln nur.
"Miss? Sie haben uns angerufen, nachdem Sie die Leiche ihres Bruders aus dem See gezogen haben, nicht wahr?" - Stille - "Nicken Sie, wenn Sie mich verstanden haben, Miss!".
Er klingt nicht ungeduldig, eher besorgt, ungewöhnlich menschlich, als würde er merken, dass die junge Frau vor ihm gerade langsam den Verstand verliert.
"Ich glaube, ich habe ihn umgebracht".
「 Shawn lebt 」
SIE muss gelogen haben. Anders kann er es sich nicht erklären. Eine Lüge, vielleicht noch nicht einmal das, sondern eine verzerrte Tatsache, geboren aus dem versagenden Verstand eines frisch traumatisierten Menschen.
"Oh, Annie, Annie", flüstert er, das Lenkrad festumklammert, die Knöchel weißer als die Wolken, die sich vor ihm aufbauschen. Er hat einen langen Weg vor sich, bis nach Crystal Lake, wo ihn entweder Tante Em oder Onkel Paul erwarten würde.
Denn er darf nicht zu Annie. Oder Annie darf nicht zu ihm?
Sie haben Bedenken geäußert, Em und Paul, als er von der rostigen Parkbank in New York aus versprochen hat, sofort herzukommen. Mit dem Auto. In seiner Verfassung keine gute Idee, haben sie zuerst gemeint, doch dann hat die Besorgnis obsiegt. Denn ein Geist, ein frischgebackener Geist ist durch das fünfminütige Telefonat gespukt, immerfort, durch jeden Satz und jedes Wort.
Finns Geist.
Er weiß nichts. Nicht, wie es passierte. Warum noch weniger. Wo? Irgendwo in Crystal Lake. Die Polizei hat kaum Details nach außen gelassen, nicht vor Annies genauer Befragung.
Shawn ist sich sicher, dass es kein Mord ist.
Annie muss verwirrt sein.
Nein, Shawn weiß, was wirklich passiert ist, so wie es alle sofort wissen müssten, die Finn kennen. Gekannt haben.
Er hat sich umgebracht.
「 Finn lebte 」
MRS. Pratchett hatte uns erlaubt, draußen zu spielen. Es kam nicht häufig vor, dass der Unterricht auf den mickrigen, von Bäumen gesäumten Schulhof verlagert wurde, doch wenn es passierte, dann genoß die gesamte Klasse die brennenden Sonnenstrahlen und den Geruch von wiedergeborener Erde.
Wir bekamen drei Bälle und zwei Springseile und teilten sie nach hitzigen Diskussionen untereinander auf. Die anderen sechs Jungen rannten umher, bewarfen sich mit Bällen und schnitten Grimassen, wenn sie an den Mädchen und mir vorgestürmten.
Annie und ich bekamen zuerst die zwei Springseile, da wir heute Geburtstag hatten.
Wir sprangen eine Weile, bis Annie nicht mehr konnte.
Sie nahm die Seile, drückte sie den zwei wartenden Mädchen in die Hand und schaute mich an. Ich verstand.
Wir entfernten uns von den anderen Kindern, gingen zurück ins Klassenzimmer und schlurften zu unseren Plätzen. Mrs. Pratchett rief draußen unsere Namen, doch wir antworteten nicht.
„Hast du sie?", fragte ich und Annie nickte nur stumm, jegliche Spur des Lächelns, welches sie für die anderen Kindern aufgesetzt hatte, verschwunden.
Sie griff wortlos in ihren zerschlissenen Rucksack - es war ein gebrauchtes Stück mit daraufgezeichneten Rennwagen - und holte drei kleine Glasflaschen heraus. Sie klirrten leicht, als Annie sie mir hinhielt.
„Hast du sie?", fragte sie mich und ich nickte nur stumm und griff in meine Hosentasche.
„Das sind alle. Mehr habe ich im Bad nicht gefunden", erklärte ich und zeigte ihr die Tablettenverpackung.
„Wieviele sollen wir nehmen?", fragte ich meine Schwester, die währenddessen vorsichtig die Flaschen öffnete. „Zwei? Drei? Vielleicht auch vier?", antwortete sie und lief zum Waschbecken. Dort schüttete sie einen Teil des Inhalts heraus und füllte anschließend etwas Wasser hinein. Noch zweimal wiederholte sie die Prozedur, dann kehrte sie mit zwei Flaschen zurück und holte schließlich auch noch die dritte.
Sie griff abermals in ihre Tasche, holte eine Fünfdollar-Note heraus und reichte sie mir. „Für nachher".
„Wie immer?", hakte ich nach und steckte das Geld ein. „Wie immer. Mach die Tabletten sofort rein, wenn du den Milchshake hast".
Ich nickte. Heute war ich dran.
Es musste sein. Für Annie und mich würde es ein paar ruhigere Tage bedeuten.
Sie sah mich einmal prüfend an, dann straffte sie entschlossen ihre Schultern.
„Geh jetzt zu Mrs. Pratchett. Nächsten Montag bin ich wieder dran".
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nicht genug
Ficção Geral[trigger warning: suicide] ❞ Habe ich ihn mit umgebracht? War ich es, die ihm den Strick um den Hals gelegt, die Munition für die Pistole gegeben, die Packung mit Tabletten besorgt hat? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur eins: Als er noch lebte, tat ic...