Hätte ich in diesem wertvollen Moment, in dem ich meine Freundin in den Armen hielt, auch nur im Ansatz geahnt, wie schrecklich dieser Tag noch werden würde, ich hätte Lisa mehr als nur flüchtig umarmt. Dann hätte ich sie vermutlich nie mehr losgelassen. Doch ich hatte keinen blassen Schimmer, konnte nicht in die Zukunft sehen. Also verabschiedeten wir uns wie immer. Wir würden uns morgen in der Schule wiedersehen – so glaubten wir.
Es war einer dieser Tage, an denen nichts so laufen wollte, wie es sollte. Die Klassenarbeit in Mathe hatte ich völlig vergeigt und der restliche Schultag war ähnlich unerfreulich gewesen. Vermutlich war ich heute Morgen bereits mit dem falschen Fuß aufgestanden. Nach der Schule war ich nur kurz zum Essen nach Hause gegangen, um mich gleich danach mit Lisa zu treffen. Doch wie der Tag es so wollte, hatte ich den Bus verpasst und war schließlich eine halbe Stunde zu spät gekommen. Lisa war enttäuscht gewesen. So sehr ich sie auch liebte – sie war meine Seelenverwandte und allerbeste Freundin – so anstrengend konnte sie auch manchmal sein. Ihre kleinen Macken würden jedoch niemals all das Gute überwiegen, das wir in unserer Freundschaft erlebten. So auch heute. Lisa hatte mir mein Zuspätkommen zwar übel genommen. Doch wir hatten uns schnell wieder zusammengerauft. Wir schafften es nie, lange auf die andere wütend sein. Das war schlicht und einfach nicht möglich. Kaum waren wir in ihrem Zimmer angekommen, hatten wir an unserem Fotobuch weiter gearbeitet. Vor ein paar Wochen hatten wir beschlossen, ein Fotobuch über unsere gemeinsame Freundschaft zu erstellen. Von den Anfängen in unserer Kindheit bis heute. Die letzten Wochen waren wir damit beschäftigt gewesen, alle Fotos zusammenzutragen – Fotos von unseren Handys und von den Handys und Festplatten unserer Eltern. Stundenlang hatten wir uns in den schönsten und lustigsten Kindheitserinnerungen verloren, wodurch der ganze Prozess viel länger gedauert hatte, als es nötig gewesen wäre. Aber in diesem Fall war auch der Weg das Ziel. Unsere Freundschaft war durch das Wecken all dieser Erinnerungen sogar noch ein Stück enger geworden – falls das überhaupt möglich war. Heute hatten wir dann endlich damit begonnen, die ersten Fotos in das Fotobuch einzufügen und mir gefielen bereits die ersten Seiten so unheimlich gut, dass ich es kaum erwarten konnte, das Endprodukt in Händen halten zu dürfen. Doch gerade, als wir uns über die Fotos von Lisas neuntem Kindergeburtstag amüsiert hatten, hatte ihre Mutter nach oben gerufen, dass ihr Öl und Salz ausgegangen seien und Lisa doch bitte schnell einkaufen gehen solle. Also hatte ich Lisa noch zum Supermarkt begleitet und wir hatten uns verabschiedet.
Mit einer Umarmung – flüchtig. Ohne die geringste Ahnung, was folgen würde.
Inzwischen schlenderte ich vom Supermarkt zur Bushaltestelle. Ich war in Gedanken vertieft, ließ den Tag Revue passieren und war dankbar, dass er nun doch noch so ein schönes Ende gefunden hatte. Drei weitere Personen warteten mit mir auf den Bus, doch ich beachtete sie nicht weiter. Mit der Zeit wurden es wie immer mehr, denn die Buslinie war viel befahren. Als der Bus endlich kam, stieg ich seufzend ein und ließ mich auf einen der Plätze ganz hinten sinken. Noch heute Morgen war mir die Welt so trostlos vorgekommen. Es war beginnender Winter und draußen war es kalt und grau – so kalt es in Sydney eben werden konnte. Ich mochte diese Zeit des Jahres nicht. Nein, ich war ein Frühlings- und Sommermensch. Die Sonne und die strahlenden Farben dieser Jahreszeiten ließen mein Herz höherschlagen und mein Gemüt erstrahlen. Doch obwohl draußen alles düster war und die Sonne sich den ganzen Tag nicht hatte blicken lassen, wurde ich nicht von derselben bedrückenden Stimmung heimgesucht wie heute Morgen. Diese typische Stimmung, die mich aufgrund meiner Vergangenheit immer wieder heimlich einholte – auch wenn meine Mutter davon nie etwas erfuhr. Durch die schöne Zeit mit Lisa waren all diese Gefühle wie weggeblasen. Lisa schaffte das jedes Mal von neuem, wofür ich sie über alles liebte. Nun freute ich mich darauf, nach Hause zu kommen und mich mit einem guten Buch in mein Bett zu kuscheln, um den Tag gemütlich ausklingen zu lassen.
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Entführt - Im Dunkeln (Leseprobe)
Mystery / ThrillerBand 1 und 2 der Entführt-Reihe. Die 16-jährige Bella wird eines Abends plötzlich auf der Straße angegriffen, entführt, gefesselt und in einen Kellerraum gesperrt. Was wollen diese Männer von ihr? Und was hat das alles mit ihrem Vater zu tun, der se...