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Ich hatte noch kein Auge zugemacht. An Schlaf war gar nicht zu denken. Mein Schädel pochte wie verrückt, ich rang verzweifelt nach Atem, weil meine Nase von Blut verstopft und mein Mund zugeklebt war und als wäre all das nicht genug gewesen, schmerzte auch noch mein ganzer Körper vom langen Sitzen und den engen Fesseln. Die quälenden Gedanken, von welchem Auftritt der Mann gesprochen hatte, spukten unaufhörlich durch meinen Kopf und ließen mich nicht einen Moment zur Ruhe kommen. Es war nicht auszuhalten. Was wollten diese Männer von mir? Ich hatte doch niemandem etwas getan! Womit hatte ich denn das verdient?

Immer wieder versuchte ich wider besseren Wissens mich aus den Fesseln zu befreien. Meine Handgelenke waren bereits blutig geschnitten und brannten, aber aus dem Kabelbinder gab es kein Entkommen. Auch meine Fußgelenke waren fest zusammengebunden. Was hätte ich darum gegeben, mich einen Moment frei bewegen zu dürfen? Mich zu strecken und meine Glieder zu entlasten?

Wie viel Zeit war denn eigentlich schon vergangen? Wie lange saß ich bereits hier? War es noch Nacht oder kam bereits der Morgen? Inzwischen hatte ich mich in der Dunkelheit dieses Zimmers umgesehen und ich war mir ziemlich sicher, dass es kein Fenster gab. Kein Schimmer Licht kam in diesen trostlosen Raum. Es war einfach nur stockdunkel. Ich hätte nicht einmal eine Hand vor meinen Augen gesehen, wenn ich sie vor mein Gesicht hätte halten können. Die Dunkelheit machte es mir unmöglich abzuschätzen, wie viel Uhr es war. Alles, was ich wusste, war, dass es sich bereits endlos lange anfühlte. Ich war furchtbar erschöpft und sehnte mich nach dem geplanten Abend mit einem Buch im Bett. Stattdessen saß ich hier und zerbrach mir den Kopf darüber, was diese Männer mit mir vorhatten. Vor Gewalt schreckten sie offensichtlich nicht zurück und das beunruhigte mich sehr. Schließlich war ich ihnen auf diesem Stuhl hilflos ausgeliefert. Ich konnte mich nicht wehren. Was auch immer sie mit mir vorhatten, ich würde es geschehen lassen müssen.

Während das Gedankenkarussell sich drehte, versuchte ich weiterhin verzweifelt, genug Luft in meine Lungen zu ziehen. Doch ich spürte, dass schon viel zu lange viel zu wenig Sauerstoff meinen Kreislauf erreichte. Mir war inzwischen schwindelig und alles drehte sich. Ich sehnte mich so sehr nach einem einzigen vollen Atemzug. Meine Lungen schmerzten bereits und meine Brust zog sich immer enger zusammen. Gequält kämpfte ich gegen das Klebeband an, aber es gab nicht nach. Resigniert spürte ich, wie ich immer schwächer wurde. Mir war auf erschreckende Weise bewusst, dass ich den Kampf verlieren würde. Doch so grausam das auch war, ich war dankbar dafür. Denn mit dem Verlust meines Bewusstseins wäre mir endlich auch ein wenig Ruhe vergönnt. Endlich könnten meine Gedanken abschalten und ich würde meinen Schmerzen und meinen Sorgen wenigstens für eine Weile entkommen. Es dauerte tatsächlich nicht mehr lange, da umhüllte die Schwärze, die mich hier umgab, auch meinen Geist. Sanft trieb ich auf ihr davon in eine tiefe Dunkelheit, die mir nach all den Qualen endlich ein wenig Ruhe verschaffte.

Zumindest ein wenig.

Ich spürte ein Klatschen auf meinen Wangen, ehe mir mit einem Ruck das Klebeband vom Mund gerissen wurde. Intuitiv schnappte ich nach Luft, die ich jedoch im nächsten Moment vor Anspannung bereits wieder anhielt.

„Verdammt, was hast du dir dabei gedacht, hm? Du kannst von Glück reden, dass ich nochmal nach ihr sehen wollte. Bis morgen früh wäre sie vermutlich erstickt. Sie atmet ja kaum noch. Bella, hörst du mich?"

Ja, ich hörte ihn. Irgendwie. Von irgendwo weither. Aber ich schaffte es weder, meine Augen zu öffnen, noch meinen Mund. Ich hatte keine Kraft dazu. Zu lange hatte mir der lebensnotwendige Sauerstoff gefehlt. Erneut spürte ich ein Klatschen auf meinen Wangen, was meine Augen kurz aufzucken ließ. Ganz langsam und leise sog ich Luft in meine schmerzenden Lungen.

„Hey, sie hat die Augen geöffnet!", hörte ich den Ausruf eines Mannes.

„Das seh ich auch, du Idiot. Isabella, schau mich an."

Er nahm mein Kinn zwischen seine Finger und drückte meinen Kopf, der schlaff auf meiner Brust hing, bestimmt nach oben.

„Schau mich an, Isabella. Ich weiß, dass du wach bist. Mach verdammt nochmal die Augen auf."

Es kostete mich all meine Willenskraft, meine Augen einen Spaltbreit zu öffnen. Verschwommen sah ich einen Mann mit Skimaske vor mir. Ich glaubte, seine Augen waren braun. Also nicht der Mann, der mich verprügelt hatte. Aber das musste ja nichts bedeuten.

„So ist gut, Kleine. Schau mich an. Und jetzt hör mir gut zu. Wir werden ausnahmsweise darauf verzichten, dich wieder zu knebeln. Wir haben alle nichts davon, wenn du für deinen Auftritt morgen nicht mehr am Leben bist. Aber eins kannst du mir glauben: Wenn ich auch nur einen Mucks von dir höre, dann kommst du nicht mit einer Tracht Prügel davon. Hast du das verstanden? Ich will nichts von dir hören. Kein Mucks. Sonst wirst du es teuer bezahlen."

Mit leerem Blick sah ich ihn an. Langsam stiegen Tränen in meine Augen.

„Hast du das verstanden?", zischte er mich an und drohte mein Kinn zwischen seinen Fingern zu zerquetschen. Ich versuchte zu nicken, doch er hatte meinen Kopf fest im Griff. Leise stöhnte ich.

„Ja", presste ich mit letzter Kraft hervor.

Der Mann nickte zufrieden und sah mir noch eine Weile finster in die Augen.

„Das ist gut. Ich hoffe für dich, dass du dich daran hältst."

Mit diesen Worten ließ er mein Kinn endlich los. Er stand auf und drehte sich um, ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen.

„Komm", hörte ich ihn zu dem zweiten Mann sagen. Nach einem letzten gehässigen Blick desselben verließen beide das Zimmer und es dauerte keine Sekunde, da wurde es wieder dunkel. Das erste Mal, seit die beiden Männer mein Verließ betreten hatten, wagte ich, richtig zu atmen. Tief und mit weit geöffnetem Mund. Verzweifelt füllte ich meine Lungen mit der Luft, nach der sie so sehr schrien.

Dann kamen die Tränen. Unaufhaltsam und in Strömen. Diese Nacht würde die Hölle werden – so wie jede weitere Minute, die ich in den Händen dieser Männer würde verbringen müssen.

Entführt - Im Dunkeln (Leseprobe)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt