Kapitel 1

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»Mom? Mom?«, kreischte ich wie eine Verrückte und rannte mit enormer Geschwindigkeit durch das Obergeschoss unseres Hauses. Sie ist doch gerade erst noch hier gewesen? Wo bist du verdammt noch mal? Unvermittelt hetzte ich aus meinem Zimmer und somit die Treppe nach unten, in der Hoffnung meine Mutter zu finden. Erneut hörte ich ein lautes Krachen. Jemand schlug so fest gegen die Tür, dass die Wände erzitterten. »Mam, wo bist du?«, schrie ich erneut, weil sich die Panik in mir einnistete und mich in einen Strudel der Verzweiflung riss. Es fühlte sich an, als hätte ich sie schon verloren, obwohl ich nicht daran denken wollte, dass so etwas tatsächlich passieren konnte. Zumindest in unserer misslichen Lage. Ich hechelte. Bei den Gedanken daran, schnürte es mir die Kehle zu. Luft. Luft. Wo war sie? Stück für Stück verschwand sie und ich kam mir vor, als würde ich ersticken.

Meine schweren Schritte nahm ich kaum noch wahr; nur das Rauschen in meinen Ohren und das Pochen meines eigenen Herzens, was mich fast wahnsinnig machte. Obwohl ich schon fast aufgegeben hatte, hörte ich sie plötzlich doch aus gefühlter weiter Ferne. Sie kam vor mir zum Stehen, umklammerte mir ihren zittrigen Händen meine Oberarme und versuchte mich irgendwie zu beruhigen. Dabei scheiterte sie kläglich. »Cina.« Ihre Stimme klang atemlos. »Hast du noch was hier im Haus?«, fragte sie aufgebracht. »Irgendetwas Wichtiges?« Ich schüttelte den Kopf. Wir hatten nur das Nötigste eingepackt, der Rest stand wie immer an Ort und Stelle. Genau so wie die Jahre zuvor. Nur wenn man in die Schränke schaute, konnte man erahnen, dass sich jemand aus dem Staub machte und das hatten wir vor.

Es war längst überflüssig, aber meine Mutter musste sich erst um einen sicheren Platz für uns beide kümmern. Dass mein Leben jemals so eine Wendung haben würde, hätte ich niemals angenommen. Ob sich das nun positiv oder negativ auswirkte, wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht, aber alles andere war besser, als an diesem Ort zu bleiben, wo ich eingesperrt wurde und ich mich unglücklich fühlte. Auch für uns musste es eine Stelle geben, wo wir normal leben konnten. Nicht wie hier.

Atemlos schnappte ich meine Tasche, als es erneut an die Tür krachte. »Das wird nicht mehr lange halten!«, rief ich aufgebracht und sah die vernagelten Bretter an unserer Haustür. Ein leises Klirren ertönte. Metall fiel auf den Boden. Bald standen sie im Flur. Da waren wir uns beide sicher. Die Nägel hielten schon kaum noch. Es war nur eine notdürftige Lösung gewesen, sodass wir etwas an Zeit gewinnen konnten, um uns aus dem Staub zu machen. Jedoch war meiner Mutter und mir klar gewesen, dass es eine Frage der Zeit war, bis wir geschnappt wurden. Wir mussten uns dringend beeilen. Ich wollte nicht bleiben. Meine Mam genauso wenig.

»Macht die verdammte Tür auf.« Die Stimme meines Vaters war schon fast ein Knurren. Nebenbei hörten wir, dass ein Fenster lautstark klirrte. Glas splitterte auf die Fliesen in der Küche. Von dort aus, wo ich stand, konnte ich es deutlich erkennen. Mein Hals war wie zugeschnürt; als würde mich jemand erwürgen und die Panik ließ mich fast hyperventilieren. In mir bohrte die Angst und ich war plötzlich wie gelähmt, als Leon, der engste Vertraute meines Vaters rief: »Cina. Du gehörst mir. Du wirst hier nicht verschwinden. Das lasse ich nicht zu. Hast du das kapiert?« Ich wusste, wie sein kurzes rotbraunes Haar in der Sonne glitzerte und ich hasste es. Ich hasste ihn wie die Pest. Wenn wir es nicht rechtzeitig von dieser Stadt wegschafften, dann wusste ich, konnte er mir echt weh tun. Das passierte auf jeden Fall.

Er war abgebrüht. Genau wie Thomas mein Vater. Sie waren beide nicht zu ertragen. Meine Mutter und ich mussten schleunigst verschwinden. Das letzte Jahr war nur gute Miene zum bösen Spiel. Sie hatte sich von meinen beschissenen Alten getrennt und das auch nur, weil es immer schlimmer mit ihm wurde. Nur durch mich und gutes Zureden schaffte sie es. Selbstverständlich hatte ich Schiss, dass sie weich wurde, unter ihm einbrach. Hinzukommend konnte er sehr überzeugend sein. Wenn sie sich ihm nicht unterwarf, konnte es schlecht für sie enden. Sehr schlecht. Ob es aus diesem Grund so gut war, dass wir tatsächlich abhauten, war fraglich, aber wir mussten es unbedingt. »Ivette!«, brüllte es. »Du wirst mit meiner Tochter hier bleiben!«, keifte es von draußen und erneut ein riesiger Krach. Ihr Blick huschte ängstlich zu mir. »Wir müssen los!«, flüsterte sie und löste meine Starre, indem sie mich durch den Hintereingang zerrte. Zum Glück hatte sie dafür gesorgt, dass wir beide irgendwo unterkamen, doch auch da müssten wir uns verstecken.

Schatten des WaldesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt