EINS
Melek:
Eigentlich bin ich ja ein ganz normales Mädchen. Eigentlich... Außer, dass ich blind bin. Nun ja, und da gibt es noch etwas anderes. Ich bin anders als andere und deswegen bin ich hier. Oma hat mich neulich hier her geschleift, weil ich dauernd Selbstgespräche führe und so und heute hab ich meine erste Stunde. Nun stehe ich hier. In einem weißen Raum, der mit einer lieblichen Couch bestückt ist. Bilder hängen rechts und links an den Wänden. Vor mir ist eine Frau mit einem Notizblock in der Hand. Ihre Blicke bringen mein Inneres zum brennen. Zum kochen. Zum verzweifeln.„Möchten Sie beginnen?", fragt sie und zerrt mich aus meiner Welt. Ruckartig schaue ich hoch und blicke ihr kühl ins Gesicht. „Sie können sich auch auf die Couch oder einen Stuhl setzen. Stehen müssen Sie keineswegs, wenn wir uns unterhalten."
Ich seufze. „Das weiß ich. Aber wenn ich schon über mich und meine Kindheit erzähle, möchte ich stehen. Ich brauche die Bewegungsfreiheit. Wenn ich im sitzen oder gar im liegen erzählen müsste, würde ich durchdrehen."
„Dann beginnen Sie doch mit ihrer Erzählung, Melek."
„Von Anfang an?", frage ich und hätte mich am liebsten in einer der Ecken verkrochen. Warum bin ich eigentlich hierher gekommen? Hab ich mich freiwillig hierher begeben? Oder wurde ich dazu gezwungen? Ich kann mich beim besten Willen nicht mehr daran erinnern.
„Bitte beginnen Sie am Anfang ihrer Geschichte", fordert sie. Ich wende mich von ihr ab und schaue einen endlosen Moment gegen die Wand, an der ein Bild von Picasso hängt. Dann schaue ich nach links. Dort hängt ein Bild, das ich noch nie zuvor gesehen habe. Schließlich schaue ich auf den Boden und atme tief ein. „Stört es Sie, wenn ich mir gelegentlich Notizen mache?"
„Nein, das stört mich nicht", sage ich und seufze leise. Ich laufe ein paar kleine Schritte im Raum umher und hole tief Luft. „Dann werde ich jetzt beginnen. Alles begann vor ungefähr 10 Jahren. Ich war 6 oder jünger. So genau weiß ich es nicht mehr."
„Bitte beginnen Sie doch mit ihrer Geburt", unterbricht sie mich und für einen Moment bin ich erleichtert.
„Gut. Dann mit meiner Geburt. Aber daran kann ich mich natürlich nicht mehr erinnern, also kann ich nur weitergeben, was mir meine Eltern und meine Oma erzählt haben.", sage ich und schlucke die aufkommenden Gedanken herunter. Dann schließe ich die Augen, weil ich bemerke, dass der eigentliche Körper wieder Besitz ergreift. Ich lasse es zu, denn meine Kraft ist am Ende. Erneut hole ich tief Luft. „Meine Eltern führten eigentlich ein sehr glückliches Leben. Sie hatten eine Kanzlei und waren durch diese eben sehr angesehen. Außerdem waren sie mit den Eltern von Alice und Ian befreundet. Aber zu meinen Freunden komme ich noch. Der Horror begann erst, als ich auf die Welt kam..."
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Meine Kindheit (Secret Cases, Band 0)
FantastikHabe ich die Wahl? Kann ich entscheiden, was ich tun darf und was nicht? Nein! Mein ganzes Leben lang haben andere darüber entschieden, was ich sagen soll und was nicht. Aber in einem Punkt konnten sie mich nicht aufhalten. Wie mein früheres Leben w...