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Überall in Jamies Zimmer stehen Kartons. Ihr Zeug ist größtenteils schon in Kisten verpackt. Ich kann nicht recht fassen, was ich gerade sehe, weshalb ich mir eine Minute gebe, bevor ich sehr laut und sehr wütend nach Mom rufe.

"Was gibts denn, Schatz?"

Sie scheint nicht zu wissen was ich meine, bis sie mich in Jamies altem Zimmer findet. Fast scho schuldbewusst sieht sie mich an, will sich rechtfertigen, doch ich komme ihr zuvor.

"Was soll das hier werden, wenns fertig ist?"

Mom sieht traurig aus, als sie mir antwortet.

"Lily, ich wollte es dir eigentlich schon lange sagen, aber ich werde Jamies Sachen spenden, ebenso wie die deines Dads. Du kannst dir gerne noch Dinge, die du als Erinnerung behalten willst, rausnehmen, aber irgendwann müssen wir über sie hinwegkommen. Sie würden wollen dass wir unser Leben weiterleben."

Ich weiß, dass sie Recht hat, will es aber nicht akzeptieren. Ich will Jamie nicht loslassen, genauso wenig wie Dad. Die beiden waren mit die wichtigsten Personen in meinem Leben. Ich schüttle abwehrend den Kopf.

"Mom, ich kann noch nicht loslassen. Gib mir etwas mehr Zeit, bitte."

Doch die Angesprochene schüttelt nur den Kopf und setzt mir eine Frist.

"In drei Tagen ist alles hier drinnen weg, so lange hast du Zeit."

Ich will etwas erwiedern, doch Mom schüttelt nur den Kopf und geht wieder ins Erdgeschoss.

Die nächste halbe Stunde verbringe ich damit, mir die Kisten anzusehen, was schon alles eingepackt ist und was noch im Zimmer steht oder hängt. An ihrer Pinnwand hängen noch alle Fotos. Auf den meisten sind Jamie und ich zu sehen, mal am Strand, mal in den Bergen, selbst das Foto vor dem Hollywood-Schriftzug hängt noch, vor dem wir aneinandergelehnt einen Handstand machen, die Füße so abgewinkelt, dass man ein Herz erkennen kann.

Ich muss beim Gedanken an den Urlaub in Los Angeles damals schmunzeln, und die ganzen Erinnerungen machen mir klar, dass Mom Recht hat. Da ich in Gedanken versunken bin, bemerke ich erst als sich jemand räuspert, dass noch eine Person im Zimmer steht. Und diesen jemand kenne ich noch nicht einmal 24 Stunden.

"Derek. Wie kommst du hier rein?"

Ich weiß, dass ich nicht begeistert klinge, aber er hat schon meine verweinten Augen gesehen, also ist es eh egal, wie ich ihn von mir stoße. Dummerweise lässt er sich von meinem angepissten Tonfall nicht beeindrucken.

"Deine Mom hat mich reingelassen, ich wollte dich ein paar Sachen wegen der Schule fragen."

Ich nicke, verlasse Jamies Zimmer ohne einen weiteren Blick und ziehe Derek am Arm mit zu meinem Zimmer, das seit Jamies Tod äußerst penibel aufgeräumt ist. Dort setze ich mich auf mein Bett und bedeute Derek, dass er sich auf den Schreibtischstuhl setzen soll. Eine betretene Stille tritt ein, in der ich Derek zum ersten mal wirklich mustere. Er sieht gut aus, ist gut gebaut, und sein Bartansatz steht ihm äußerst gut. Doch bevor ich ins Schwärmen gerate, räuspere ich mich.

"Also, was willst du mich fragen?"

Derek sieht kurz verwirrt aus, bis er sich wieder fängt und mich mit allen möglichen Fragen über Physik, Mathe, Englisch und all den anderen Fächern zu löchern. Ich beantworte seine Fragen so gut wie möglich, und ich vergesse vollkommen die Zeit. Je länger wir hier so sitzen desto entspannter werde ich, und lasse allmählich meine eiskalte Maske fallen, ohne dass ich es will. Wir lästern gerade ein wenig über unsere Physiklehrerin, als es an meine Zimmertür klopft und Mom ihren Kopf reinsteckt.

"Es tut mir leid, euch unterbrechen zu müssen, aber deine kleine Schwester ist hier und soll dich abholen, Derek."

Erstaunt werfe ich einen Blick auf meine Uhr und stelle erschrocken fest, dass es bereits 11 Uhr ist. Nicht nur ich scheine die Zeit vollkommen übersehen zu haben, denn auch Derek sieht erschrocken aus als er einen Blick auf sein Handy wirft, um die Uhrzeit herauszufinden.

"Na dann, Lily, danke dass du dir die Zeit genommen hast meine Fragen zu beantworten. Bis morgen dann. Bis zum nächsten Mal, Mrs. Martin."

Ich begleite Derek noch zur Haustüer, und schließe sie hinter ihm, nachdem er die Stufen vor der Türe hinabgegangen ist. Mit dem Rücken an der Türe atme ich einmal tief durch, bevor ich mich wieder in den Keller in mein Zimmer begebe und mich bettfertig mache. Keine fünf Minuten später liege ich in meinem Bett und denke über den heutigen Tag nach.

Ich hätte mich fast diesem Derek geöffnet, der mich irgendwie fasziniert, und obwohl ich mir geschworen habe, nie wieder jemanden in mein Herz zu lassen, bin ich bereits dabei, die Kontrolle über mein Herz zu verlieren. Und das bereits nach einem Tag, oder besser gesagt ein paar Stunden unterhalten, und das über die Schule.

Bei dem Gedanken daran, dass ich morgen wieder in die Schule muss und somit Derek wieder die kalte Schulter zeigen werde, tut es mir um Derek fast leid, aber nur fast. Ich kenne ihn viel zu wenig, um ihm vertrauen zu können.

Mit einem letzten Gedanken an Dereks blaue Augen mache ich das Licht aus und schlafe relativ schnell ein.

HopeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt