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Kapitel 26

Es war kurz vor Mitternacht, als mein Bruder und ich im Dunkeln Fernsehen schauten, während er jeden Moment ins Land der Träume verschwand.

„Geh' in dein Bett.", flüsterte ich und strich ihm leicht über seine Haare. Er drückte die Arme fester um meinen Bauch und schloss seine Augen.

„Sehe ich etwa aus, wie dein Bett?", lachte ich leise. Er brummte bloß und rührte sich kaum.

Mein Bruder und ich hatten eine etwas außergewöhnliche Beziehung zueinander, denn manchmal kam es vor, dass wir uns tagelang nicht unterhielten, weil wir uns schlichtweg nichts zu sagen hatten und in anderen Momenten saßen wir bis spät abends vor dem Fernseher und unterhielten uns, bis er müde wurde.

„Komm schon." Sanft hob ich seinen Arm weg und half ihm aufzustehen. Früher war ich auch wie er und lies mich von meinen Eltern von der Couch ins Bett tragen, als sie mir erlaubten noch länger mit ihnen ihre Krimiserie zu schauen. Als ich dran dachte, stellte ich mir die Frage, ob ich diese Zeiten vermisste.

Als ich die Decke in seinem Bett über ihn legte und danach sein Zimmer verlassen wollte, blickte ich aus dem Fenster.

Dort stand ein schwarzes, nicht gerade unauffälliges Auto, in dem ein kleines Licht von einem Handy leuchtete. Das konnte einfach nicht er sein.

Er kannte meine Adresse doch gar nicht. Scheiße, was wusste dieser Mann denn nicht?

Neugierde war es, die mich dazu brachte, die Treppen runterzulaufen und mir dabei einzubilden, dass er es war.

Doch weshalb? Was war sein Grund zur Mitternachtszeit vor meiner Haustür mit diesem gewaltigen Auto aufzutauchen? Als ich dem Auto näher kam, hob sich sein Kopf nicht. Scheinbar war da jemand sehr konzentriert auf etwas besonders Wichtiges.

Er war es doch tatsächlich. Dieses Gesicht mit der unverwechselbaren Narbe erkannte ich nach einem raschen Wimpernschlag.

Da saß Nael in einem auffälligen Auto vor meinem Haus und beachtete mich nicht einmal. Unverschämter ging's wohl kaum. Aggressiv klopfte ich gegen das Fenster.

Endlich hob er den Blick und mein Herz machte einen ungesund weiten Sprung und schien sich ab dem Moment nicht mehr beruhigen zu können, denn es klopfte wie wild.

Irrte ich mich, oder erkannte ich ein sachtes Schmunzeln in Naels Gesicht, kurz bevor er die Autotür öffnete und sein benebelndes Parfüm seinen Weg in meine Nase fand?

„Das meinst du nicht ernst, Nael.", stellte ich zuerst fest. Ihm stand sein dunkelblauer Anzug, so perfekt, wie es nicht anders hätte sein können.

„Würde ich sonst hier stehen, Milana?" Wie ich es vermisst hatte meinen Namen von jemand anderem zu hören, außer von meiner Familie und meinen Eltern.

„Hattest du nicht von mir verlangt, dass ich gehen soll? Was tust du dann wieder hier?", fragte ich wütender. So konnte er doch nicht mit mir umgehen, nicht mehr. Wie ich bemerkte, konnte er seine Augen nicht von mir nehmen, was mich mit Sicherheit nicht beruhigte.

So wie er, nahm ich sein schönes Auftreten noch detaillierter unter die Lupe.

Einen Knutschfleck erkannte ich an seinem Hals, direkt unter dem weißen Hemd. Ob er von Camilla war, oder doch einer anderen Frau, die Nael um den Hals fallen würde, wenn er ihr bloß einen unbedeutenden Blick schenken würde?

Nael schien nicht viel von ernsthaften Beziehungen zu halten und wie mir früher aufgefallen war, ignorierte er gekonnt jeden verführerischen Blick der Damen, die er zugeworfen bekam, selbst wenn sie bereits auf dem Schoß eines anderen Mannes saß, der wiederum Nael eifersüchtig und voller Neid in den Augen anblitzte.

Scheinbar bemerkte Nael, dass ich den Fleck erkannte und lächelte leicht. „Was ist so lustig?", fragte ich gereizt und verschränkte die Arme distanzierend vor dem Brustkorb.

Das musste ich einfach tun, um stärker zu wirken, als ich tatsächlich war. Ich musste die Lüge aufrechthalten, dass ich Distanz zu ihm brauche und keinerlei Gefühle empfinde, wenn ich ihn in meiner Nähe habe.

„Das war Camilla.", antwortete er spottend und zog mit dem Zeigefinger das Hemd etwas nach vorne, so dass ich den perfekten Blick auf den Knutschfleck hatte.

„Sehr schön. Ist sie dein neuer Joker?" Er hob als Antwort die Augenbraue. „Sie passt da definitiv besser rein, als ich.", fügte ich hinzu und blickte weg von seinem Gesicht, das mich bloß provozierten konnte.

Plötzlich spürte ich seinen Körper näher als zuvor und zuckte zusammen, als ich meinen Blick wieder zu ihm richtete.

Wieso mussten wir uns so kennenlernen? Weshalb konnte Nael kein normaler junger Mann sein gegen den ich so klischeehaft wie möglich in der Stadt knallte und meinen Kaffee auf seinem Jacket verschütten konnte?

„Das sehe ich nicht so", antwortete er mir mit rauer Stimme. Ich presste meine Lippen aufeinander.

„Doch, das tust du. Das musst du. Also sag mir, wieso du hier bist und gehe dann endlich." Ich trat langsam ein Schritt zurück und Naels Gesicht verhärtete sich und bekam einen eisernen Ausdruck.

„Wir haben bald alles. Milana, nur noch einen Schritt. Ich weiß nicht, wieso ich das tue, aber bleib' morgen daheim. Sag deiner Familie, dass ihr einen Tag daheim verbringen solltet. So was macht man doch in einer glücklichen Familie, oder nicht? Scheiß drauf, du weißt, was ich meine."

Ich nickte. Ich hatte es geahnt, ich wusste es einfach. Nael wird es erst beenden, wenn er das hat, was er möchte. „Werden Menschen sterben?", fragte ich zögerlich.

Er rollte die Augen genervt. „Oh, entschuldige die Frage. Ist ja mit absoluter Sicherheit klar, dass Nael niemanden am Leben lässt, wenn er sich das holt, was ihm zusteht.", äffte ich ihn nach, was ihn wütend machte.

Mit paar Schritten kam er auf mich zu und schon wieder raste mein Herz. Aber nicht aus Angst, sondern mehr aus Aufregung. Alles, was mit Nael in Verbindung war, schien mir wie ein purer Adrenalinkick und passte so gar nicht in mein ödes und einseitiges Leben, was es nur noch aufregender machte.

„Pass auf, wie du sprichst.", drohte er mir und war mir fast so nah, wie vorhin. Dieses Mal jedoch trat ich keinen Schritt zurück, sondern blickte ihm voller Stolz und Sturheit in die Augen.

„Sonst, was? Bin ich dann wieder dein Joker? Ich denke, das würde Camilla nicht glücklich machen." Langsam wanderte mein Finger zum Knutschfleck, ehe ich ihn fest drauf drückte und an Naels Gesicht, das sich unverzüglich anspannte, erkannte, dass es ihn nicht kalt lies.

„Sie macht ihren Job, viel besser als ich." Meine Augen richtete ich mit Absicht auf den Knutschfleck. Nael reagierte erst Sekunden später und nahm meine Hand in seine Hand.

„Niemals. Ich brauche sie nicht.", antwortete er und wir wussten beide, was er damit meinte.

„Wen brauchst du dann?", flüsterte ich. Seine dunklen Wimpern waren zum Sterben. Er war so viel schöner, als jeder andere Mann, dem ich je begegnet war. Nael nahm meine Hand sanft und zog mich an seine muskulöse Brust. Alles war so surreal und wirkte, als wäre ich in Trance. Berührte mich Nael wirklich an der Taille oder halluzinierte ich bloß, wie eine Verrückte?

„Nael.", haspelte ich bloß leise und konnte nicht fassen, wie ich seine Nähe genoss und sein Parfüm inhalierte. Wie tief bin ich denn bitte gesunken? Hatte ich jeden menschlichen Verstand verloren?

„Lass es zu. Nur dieses eine Mal.", flüsterte er und ich lies es zu. Benebelt nickte ich.

„Aber Camilla-„ Er unterbrach mich. „Sie ist nicht annähernd, wie du." Ich wusste, wie falsch es war. Ich wusste es einfach. Und ich litt darunter. Doch Nael glich den Schmerz mit seinem bloßen Dasein aus.

„Was ist das hier, Nael?" Er schloss die Augen und legte seine Hand an meine Wange.

„Etwas ganz anderes, als ich erwarten konnte."

GANGSTER OF THE STREETSWo Geschichten leben. Entdecke jetzt