In einem Werk des römischen Dichters Ovid wird der Besuch des Göttervaters Jupiter und seines Sohnes Merkur in einer Stadt beschrieben. Keiner der dortigen Einwohner will den Reisenden Einlass gewähren. Nur Philemon und Baucis, ein altes Ehepaar, das in einer ärmlichen Hütte am Stadtrand lebt übt Gastfreundschaft und bewirtet sie mit allem was ihnen zur Verfügung steht. Daran, dass sich der Weinkrug immer wieder von alleine auffüllte, erkannten sie ihre Gäste als Götter, denen sie nun auch noch ihre einzige Gans opfern wollten. Die beiden Götter hielten sie jedoch davon ab und baten sie, sie zu begleiten, um der Strafe für die ungastliche Stadt zu entgehen. Von der Höhe müssen Philemon und Baucis dabei zusehen, wie ihre Stadt allmählich in einem Sumpf versinkt. Nur ihr ärmliches Häuschen blieb verschont und verwandelte sich in einen prächtigen Tempel. Von Jupiter aufgefordert, ihre Wünsche zu nennen, baten sie darum, als Priester ihr Leben lang den Tempel hüten zu dürfen und zur selben Stunde zu sterben, so dass keiner von ihnen ohne den anderen leben müsste.
So geschah es auch. Sie dienten im Tempel, bis sie eines Tages, alt und grau, auf den Tempelstufen redend in eine Linde verwandelt wurden.Woher ich das alles weiß? Es ist schwer sich die Geschichte nicht zu merken, wenn der eigene Vater Geschichte Professor und von der römischen Mythologie quasi besessen ist. Außerdem könnt ihr euch nicht vorstellen wie oft ich sie zu hören bekommen habe, weil der glückliche Kerl in der Geschichte mein Namensvetter ist.
Philemôn, so heiße ich. Wie viele konnte ich meinen Namen nie so wirklich leiden, und das nicht nur wegen der Geschichte des Tempelhüters. Meinem Vornamen nach bin ich der Liebende oder Geliebte, was ich nicht als besonders zutreffend empfinde, da mir die Liebe schon immer als seltsames Konstrukt erschien. Meinen Eltern waren keine der zehntausend Abwandlungen von Philipp außergewöhnlich genug, weshalb ich eben nun so heiße wie ich heiße. Der Akzent über dem O soll einfach nur zeigen, dass ich durch und durch Franzose bin und die Leute in meiner Umgebung wenigstens ein bisschen was mit meinem Namen anfangen können.Schon seit ich denken kann lebe ich am selben Ort, nämlich in Roussillon. In diesem kleinen Bergdorf dreht sich alles um Farben, angefangen mit den bunten Häusern der Kleinstadt bis hin zur Umgebung, die durch duftende Lavendel- und Sonnenblumenfelder gekennzeichnet ist. Sämtliche Fassaden der Häuser sind rot, orange, gelb oder ockerfarben, da rund um Rousillon bis vor einigen Jahren Ocker abgebaut wurde. Wie kann man in diesem Dorf nicht zur Kunst, egal welcher Form, finden? Der Ort hat nur um die 1.400 Einwohner weshalb alle den merkwürdigen Philemôn Bonnet mit den feuerroten Haaren kennen, der im Sonnenblumenfeld, das sein Haus einschließt, mit seiner Staffelei sitzt und Tag für Tag vor sich hin malt.
Ja, wirklich. Ich sitze jeden Tag in unserem Feld. Manchmal verschlägt es mich auch ins Lavendelfeld des alten Dupont, unseren Nachbarn, aber das ist nebensächlich.Heute war es ungewöhnlich heiß draußen für Ende September, aber ich setzte mich trotzdem hinaus. Die Sonne brannte unerbittlich auf meinen Kopf und die Arme und trieb mir den Schweiß aus sämtlichen Poren. Ich war keine zehn Minuten draußen, als Maman, mit Sonnenschirm, dazugehöriger Creme und einem großen Glas Limonade bewaffnet, aus dem Haus gelaufen kam und mich erst in Frieden ließ, nachdem ich mir eine dicke Schicht Sonnencreme aufgetragen habe. Um weiteren Störungen zu entgehen holte ich meinen Walkman hervor den ich letztes Weihnachten 1979 bekommen habe und ließ mich von Tchaikovsky, Chopin und Co. berieseln. Mit Musik fällt mir das Malen leichter. Ich bringe einfach das auf die Leinwand, was ich höre. Bis vor kurzem vertrieb ich mir die Zeit, die ich nicht zum Malen nutzte, damit, klassische Stücke zu transkribieren, aber auch nur Maman zu liebe. Sie dachte es sei eine willkommene Ablenkung für mich. Eine Ablenkung vom Tod meines kleinen Bruders Maxim. Sie ist noch immer so tot unglücklich, viel unglücklicher als ich es bin, aber das ist eine andere Geschichte.
Vor fünf Jahren, damals war ich zwölf, wurde mir die Diagnose Synthäsie gestellt. Das heißt, dass ich Töne als Farben sehen kann, noch ein Grund weshalb ich aus der breiten Masse herausstach. Nicht nur äußerlich auffallend, sondern auch noch einen an der Klatsche.
Nun versuchte ich mich auf die Musik zu konzentrieren. Ich schloss die Augen und versuchte bewusst meine Umgebung wahrzunehmen. Gelb. Ein leichter Windhauch, der mir den Geruch von Lavendel in die Nase trieb, fuhr über das Feld, obwohl ich doch im Sonnenblumenfeld saß. Wie riechen Sonnenblumen überhaupt? Habe mir noch nie Gedanken darüber gemacht.
Mit geschlossenen Augen führte ich den Pinsel mit sanften Bewegungen über die Leinwand. Einmal, zweimal.
Die Sonne schickte noch immer ihre heißen Strahlen auf die Erde herunter und schien mich regelrecht in Flammen aufgehen lassen zu wollen. Morgen habe ich bestimmt einen Sonnenbrand.Als ich meine Augen öffnete, um zu sehen, wie ich nun weitermachen soll, fand ich mich in einem mir unbekannten Raum wieder. Er war weiß, kalt und steril eingerichtet. Nur das nötigste war darin zu finden. Bett, Schrank, Schreibtisch, Stuhl und zwei Türen. Eine die aus dem Zimmer hinaus- und eine andere die ins vermutliche Bad hineinführt. Ich saß am Schreibtisch, der vor dem Fenster stand, Pinsel in der Hand. Draußen war ein Feld mit Sonnenblumen zu sehen. Die Sonne ging gerade unter, tauchte das Zimmer in ein gelblich, oranges Licht, das in seiner Farbe Honig gleichkam und die Sonnenblumen drehten ihre Köpfe, wie einem Abschied ähnlich, dem untergehenden Himmelskörper zu. Vor mir lag ein Papier eines Zeichenblockes, zwei Farbstriche waren darauf zu sehen. Gelb.
Wo bin ich?
Die Antwort lag mir auf der Zunge. Ich stand auf, fuhr mir durch das lockige Haar und zog in Gedanken versunken Kreise durch das überschaubare Zimmer.
Wo bin ich?
Wo bin ich?
Wo bin ich?
Ich zermarterte mir das Hirn, doch es fiel mir einfach nicht ein.
Plötzlich hörte ich Stimmen und Schritte vor der Tür. Zögernd drückte ich die Klinke herunter, doch sie ließ sich nicht öffnen. Nervös zupfte ich am Ärmel meines Shirts herum, als ich etwas komisches unter dem Stoff fühlte. Langsam schob ich den blass-blauen Stoff nach oben.
Eine wulstige Narbe schlängelte sich vom Handgelenk ungefähr zehn Zentimeter an der Innenseite meines Unterarms hinauf.
Ungläubig starrte ich auf auf meinem Arm.
Was ist passiert?
Doch schlagartig fiel mir alles wieder ein.
Resigniert ließ ich mich auf das Bett sinken. Hinter mir unzählige Bilder die ich gemalt habe. Landschaften, Gegenstände, dutzende Sonnenblumen, Porträts von Maman und Maxim.Anstalt.
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Socordia
PoetrySammlung von kurzen Texten, die mir sehr gefallen haben. Einige sind auch von mir selbst. Bin keine große Poetin. Gedanken, die mir nicht aus dem Kopf gehen. Dinge, dir mir spontan einfallen.