Geschwister

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Das leise Ticken des Metronoms auf dem Schreibtisch vor mir dringt zu meinen Ohren durch. Es ist in unmittelbarer Nähe und trotzdem klingt es so fern, gedämpft, als wäre es in einen Karton voller Watte gepackt worden. Ich fühle mich taub. So weit weg von allem.

„Erzähl mir doch mal von ihm."

Die Stimme meines Gegenübers dringt nur langsam zu mir durch.

„Warum sollte ich das tun?"
Ich räuspere mich. Meine Stimme ist kratzig, fast heiser. Nur noch ein leiser Hauch. Habe so lange schon nicht mehr gesprochen, dass mir meine eigene Stimme fremd vorkommt.

„Es wird dir gut tun. Ich und vor allem deine Eltern wollen, dass es dir wieder besser geht. Das weißt du doch, oder?"

Lache spöttisch. Ich will nicht. Ich will nicht über ihn sprechen, weil ich genau weiß, dass es mir nicht besser, sondern danach nur schlechter gehen wird.
Aber ich vermisse ihn doch so schmerzlich.

„ ...nur so viel du willst."

Ich sehe den Mann mir gegenüber fragend an. War für einen Moment wieder ganz weit weg. Versunken in einem Sumpf aus Gedanken. Er wiederholt sich.

„Erzähl mir nur so viel wie du willst. Ich zwinge dich zu nichts. Alles was ich möchte ist, deiner Genesung einen Schritt näher zu kommen."

Ich seufze. Ein dicker Kloß bildet sich in meinem Hals und die Tränen bahnen sich einen Weg zu meinen Augen. Mühsam versuche ich meine Gefühle im Zaum zu halten. So sehr ich mich auch dagegen strebe, beginne ich schließlich doch von ihm zu erzählen.
Von wem?
Ich erzähle die Geschichte von meinem Bruder und mir, bis er mir genommen wurde. Mein kleiner Maxim.

Ich wollte eigentlich nie Geschwister haben. Damals, als er im tiefsten Winter zur Welt kam, hielt sich meine Freude über ein kleines Baby mit dem ich die Liebe meiner Eltern teilen musste ziemlich in Grenzen. Aber als das kleine runzlige Ding mit den kleinen Fingern nach mir griff, eisblaue Augen die mich neugierig musterten, kam ich nicht umhin als mich verbunden zu fühlen. Und dieses warme Gefühl der Verbundenheit wurde über die Jahre immer stärker.
Wir waren unzertrennlich, verstanden einander ohne reden zu müssen. Der eine konnte nicht ohne den anderen sein.
Jedoch wurde bei Maxim nach einigen Jahren ein Defekt festgestellt den er scheinbar bereits seit seiner Geburt hat, der bisher aber einfach übersehen wurde. Er hatte einen Vertikelseptumdefekt. Ein Herzfehler bei dem der Betroffene ein Loch in der Scheidewand der Herzkammern hat. Aber Maxim hätte das nicht egaler sein können. Vielleicht weil er es nicht verstand, weil ihm das Ausmaß dieser Krankheit nicht bewusst war oder aber er war einfach ein viel zu sorgloses Kind. Er blieb so ungestüm wie eh und je. Das einzige was ihm Sorge bereitete war, dass jetzt vielleicht weniger Liebe in sein kleines Herz passen würde.

Ein oder eineinhalb Jahre später, ich muss bestimmt elf oder zwölf Jahre alt gewesen sein, wurde bei mir dann Synthäsie festgestellt. Maman dachte immer ich würde sie verarschen, als ich meinte, dass ich Töne als Farben sehen kann, aber ich kann es ihr nicht übel nehmen. Wer würde sowas denn einem Kleinkind abkaufen?
Der kleine Maxim aber fand das so toll, dass er mich ab sofort als Superhelden feierte. Er hat immer sämtlichen Krempel hervorgeholt, darauf rumgeschlagen und dann gefragt welche Farben ich sehe. Beim Musikhören Zuhause, im Auto oder wo auch immer fragte er mich was ich sehe. Maxim nannte mich auch andauernd Tonmaler, weil ich zu der Zeit begann die Musik, die ich hörte auf die Leinwand zu bringen. Er brachte mich dazu alles mögliche zu malen, wollte immer wieder Modell für mich sitzen, damit ich üben konnte Menschen zu malen.

Damals sahen Maxim und ich uns auch so unglaublich ähnlich, dass die Alten in Rousillon uns immer nur die Bonnet-Zwillinge nannten. Wir glichen uns wie ein Ei dem anderen. Der einzige Unterschied war unsere Größe da ich ja doch einige Jahre älter war.

Ich kann mich noch an die sengende Hitze im Sommer, als wir in den Sonnenblumenfeldern Fangen spielten und wir immer mit unzähligen Schrammen und Bienenstichen zurück nach Hause kamen und die klirrende Kälte im Winter, bei der Wangen und Nasenspitze so rot wie unser Haar wurden, so klar erinnern als wäre es erst gestern gewesen. Inzwischen die lauen Nächte in denen wir uns aus dem Haus geschlichen und die Sterne beobachtet haben, weil Maxim so viel Gefallen an der Astrologie gefunden hatte. Ich habe mir damals extra Bücher aus der alten und staubigen Bibliothek in Rousillon ausgeliehen, um Maxim so vereinfacht wie möglich etwas über die Sterne erzählen zu können, da er selbst noch nicht alles verstand was in den Büchern geschrieben stand.

Mir steigt der Geruch des Lavendelfelds des alten Dupon, von nasser Erde nach viel Regen, Maxims Lieblingsessen, vergilbtem Papier alter Bücher und Rauch des brennenden Holzes im Kamin, den wir in den Wintermonaten immer zum Heizen verwendeten in die Nase.

Alles war so schön und unbeschwert. Die Feiertage und Geburtstage, die wir miteinander verbrachten. Die kleinen Streitereien zwischendurch. Maxim, ich, unsere Eltern- wir alle waren so glücklich. Das Leben war gut.

Nur hörte das Loch im Herzen meines kleinen Bruders nicht auf zu wachsen. Langsam hat sein Herzfehler ihn dahingerafft, an ihm gezehrt. Während das Loch größer wurde, wurde er selbst immer schwächer. Er war in kurzer Zeit so ein schmächtiger kleiner Junge geworden. So unglaublich zerbrechlich. Die Glieder so schmal und zart. Schneeweiße Haut, weil er kaum in die Sonne kam. Das Gesicht, welches meinem so ähnlich war, eingefallen. Sein Anblick tat mir weh. Ich hörte Maman wie sie nachts immerzu bitter weinte. Papa, der ihr mit ruhigen Worten gut zuzureden versuchte. Hielt dem kleinen Max die schmale Hand bis er endlich einschlief.
Noch immer erzählte ich ihm von den Sternen und malte die Sternbilder auf einzelne, kleine Leinwände, um sie ihm zeigen zu können.
Noch immer fragte er mich danach, welche Farben ich sehe wenn ich die Musik in unserem Zimmer laufen ließ.

„Muss ich denn sterben, Philemôn?", fragte er mich dann einmal plötzlich. Draußen war das zwitschern der Vögel zu hören. Habe das Fenster offen gelassen, da es zum einen viel zu warm im Dachgeschoss war und zum anderen, um den unverkennbaren Geruch des Lavendels hereinzulassen. War gerade dabei das Sternbild des Herkules für ihn zu malen, als er mich mit der Frage überraschte.
Er hat mich so ängstlich und traurig mit seinen blauen Augen angesehen, dass es mir beinahe das Herz in kleine Stücke zerriss. Ich wollte ihm nicht die Wahrheit sagen. Wollte nicht, dass er Angst hat. Wollte es auch selbst nicht wahr haben, dass er mich zurücklassen wird.
„Nein, Maxim. Du stirbst nicht. Du... du wirst zu einem großen, hellen Stern am Nachthimmel. Zu einem Stern, der viel schöner leuchtet als alle anderen. Sogar viel strahlender als Sirius!"
Ich fuhr ihm durchs lockige Haar, wie ich es immer tat und versuchte ihn breit anzulächeln. Seine Augen begannen zu strahlen und er lächelte zurück.
„Warum weinst du denn auf einmal, Philemôn?"
Ich erschrak. Mir war gar nicht aufgefallen, dass mir die Tränen in Strömen die Wangen herunterliefen.
„Weil ich eifersüchtig bin, dass ich kein so toller Stern wie du werden kann.", schluchzte ich und wischte mir die Tränen mit dem Handrücken, die Finger voll mit Acrylfarbe, aus dem Gesicht.

Noch heute kann ich sein Lachen in meinen Ohren nachklingen hören. Es war so hell und schön. Nie war mir sein Lachen zuwider. Hätte es in Dauerschleife hören können, weil allein sein Lachen mich bereits glücklich gemacht hat. Es war orange. So orange wie der Himmel beim Sonnenuntergang. Seit er nicht mehr hier bei mir ist, habe ich kein einziges Mal mehr ein oranges Lachen gesehen. Es war einmalig.

So wie er selbst.

Maxim.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Jun 03, 2019 ⏰

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