Kapitel 1

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Und zwar beginnt die Geschichte an einem kalten Novembermorgen im Jahr 2010. Es ist ein Freitag und ich habe einen Schulausflug. Der ganze Jahrgang reist zum Konzentrationslager in Krakau um sich dort bilden zu lassen, wie das ja üblich ist in Deutschland.

 Es ist eisig und ein kalter Wind bläst, der mir Tränen in die Augen treibt. Dummerweise habe ich gar nicht mit diesem Wetter gerechnet und stehe nun ohne Mütze oder Handschuhen am Eingangstor des KZ und warte bis die Führung beginnt. Meine Hände vergrabe ich in meinen Jackentaschen und den Kopf ziehe ich so weit wie möglich in meinen Kragen. Ich sehe mich um und bemerke, dass ich eine der Einzige bin, die die Wetterprognose nicht studiert hatte. «Warst heute Morgen wohl auch zu Müde um die richtigen Kleider einzupacken, Louisa.» Markus der jetzt schon rote Ohren und eine Nase hat, die Rudolph dem Rentier Konkurrenz macht, kommt auf mich zu. «Ja, ich habe nicht viel überlegt», gebe ich zu und sehe meiner Dampfwolke nach, die meinem Mund entwich. Markus ist ein netter Junge aus meiner Klasse, der manchmal sehr anhänglich sein konnte. Er ist der Typ den meine Mutter gerne als Schwiegersohn haben würde. Gute Noten, immer freundlich, spielt Trompete und trinkt nicht wirklich. Trotzdem bin ich mir ganz sicher, dass aus uns niemals etwas werden würde. Nur leider sieht er das nicht gleich.

Er setzt gerade an, um nochmals etwas zu sagen als unser Geschichtslehrer und der Guide um Ruhe bitten. «Da setzen mir diese Geschichten aus dem Konzentrationslager doch noch mehr zu, wenn ich bedenke, dass die Häftlinge hier zusätzlich auch diese Kälte ertragen mussten.», flüstert er mir nun zu. Ich habe nicht wirklich Lust darauf Smalltalk mit Markus zu führen und nicke nur kurz als Bestätigung, dass ich seine Worte gehört habe. Die Einführung geht zum Glück nicht allzu lange und dann fängt die Führung endlich an. Unauffällig schleiche ich mich zu meinen Freundinnen vor, um Markus abzuschütteln. 

Nach etwa einer Stunde schmerzen mir die Ohren vor Kälte so fest, dass ich sie mit meinen etwas wärmeren Händen aufwärmen muss. Ich muss wie ein Vollidiot aussehen, schoss es mir durch den Kopf. Aber lieber ein Vollidiot wie, dass mir die Ohren abfrieren. «Hast du kalte Ohren oder willst du nicht hören was hier für schreckliche Dinge passiert sind?», flüstert mir eine belustigte Stimme zu.Ich drehe meinen Kopf nach links und sehe zu Henning auf der mich angrinst.«Ähm, nein. Ich habe nur verdammt kalte Ohren.», flüstere ich zurück. «Willst du meine Mütze haben?», fragt er und deutet auf seine Wollmütze, die auf seinem Kopf thront. Ich war ein wenig überrascht von dem lieben Angebot, dass ich im ersten Moment gar keine Antwort gab. «Dann bekommst du aber kalte Ohren und dass will ich auch nicht.», antworte ich dann schließlich. «Ich habe auch noch einen Schal, den ich mir um den Kopf wickeln kann. Du kannst sie also wirklich gerne haben.», meint Henning dazu und nimmt seine rote Mütze ab, ohne auf meine Antwort zu warten. Er drückt sie mir in die Hand und wickelt dann zur Bestätigung seinen Schal um die Ohren und grinst mich frech an. Ich schenke ihm ein dankbares Lächeln und setze mir seine Mütze dann auf den Kopf und ziehe sie tief hinunter, über die Ohren. Sie war schon richtig schön vorgewärmt.«Vielen Dank, Henning, das ist sehr lieb von dir. Ich habe auch keine Läuse, du musst also keine Angst haben», sage ich und hätte mich gleich darauf ohrfeigen können für diese dumme Aussage. Henning jedoch muss lachen und sagt dann mit gedämpfter Stimme, da der Guide schon böse Blicke in unsere Richtung wirft: «Daran habe ich auch keine Sekunde lang gedacht. Aber falls ich in den nächsten Tagen ein Jucken auf meiner Kopfhaut spüre, weiß ich wo ich mich melde» Ich boxe ihm freundschaftlich in die Schulter und wende mich dann wieder der Führung zu.

Jedoch bleibe ich nicht wirklich lange aufmerksam. Henning und ich sind nicht wirklich Freunde. Wir sehen uns nur ab und zu und unterhalten uns ein wenig, das war es aber auch. Warum bietet er mir jetzt so lieb seine Mütze an? Nadine, eine meiner besten Freundinnen, findet es auch eher suspekt und kann nicht mehr aufhören sich den Kopf darüber zu zerbrechen. "Ne aber jetzt mal wirklich Louisa, wieso hast du sein Angebot überhaupt angenommen? Schau dir mal seine Haare an, wirklich gepflegt sehen die ja nicht aus." Nadine ist schon immer sehr direkt gewesen und sagt immer was sie denkt. "Hey, sei nicht so gemein!", rief ich empört aus. "Was? Sei doch ehrlich, er sieht wirklich ein wenig ungepflegt aus.", verteidigt sich Nadine. "Darum geht es gar nicht. Er ist ein lieber Typ und hat was Nettes für mich gemacht. Ob er jetzt fettiges Haar hat oder nicht, ist egal, nicht wahr Ana?", stehe ich für ihn ein. Ana haltet sich aus der Konversation raus und verschwindet mit einem Schulterzucken auf der Toilette. "Vor allem hat er eine Freundin...", spekuliert Nadine weiter. "Scheiße Nadine, hör doch auf!", dringt Anas Stimme durch die Wand zu uns. "Man lebt nicht nur für seine Freundin. Henning ist ein feiner Typ. Nur weil du noch keinem begegnet bist, der dich nett behandelt, heißt das auch nicht, dass sie nicht existieren. Lass es doch einfach so stehen wie es ist!" 

Nachher verlor keiner mehr von uns ein Wort darüber. Ana scheint das Thema vergessen zu haben und Nadine zieht immer noch einen Schmollmund wegen Anas Aussage. Doch ich grübelte auf dem Nachhauseweg im Bus immer noch weiter. Ich kann es mir selber nicht erklären warum mich das so sehr beschäftigt. Gedankenverloren beobachte ich Henning wie er weiter vorne im Bus angeregt mit unserem Geschichtslehrer über irgendetwas diskutiert. Die Mütze hat er ohne groß ein Wort zu verlieren wieder zurückgenommen. Er ist nicht mal mehr auf die Läuse eingegangen. Für ihn scheint es also wirklich nichts bedeutendes gewesen zu sein.

Er wollte wahrscheinlich einfach nett sein, aber für mich war Henning von diesem Tag an sehr interessant geworden....


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Das Henning zu seiner Schulzeit eher ungepflegt war, hat er selbst einmal gesagt. Das ist nicht erfunden.

Wir zusammen sind Dies und Jenes, aber alles nix konkretesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt