KAPITEL ZWÖLF ㅡ JAE

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„Nein, nein, nein!", ruft Sungdeuk verzweifelt und rauft sich die dunklen Haare, ehe er sich mit einem Seufzer, der tiefer als der Marianengraben ist, auf den Lippen von uns abwendet und abseits unserer Blicke versucht, seine Contenance wiederzuerlangen.

Wir blicken uns verlegen an; vor allem Jin-Hyung, dem der seltene Gefühlsausbruch unseres Tanztrainers und Choreografen zuteil wurde, sieht aus, als würde er am liebsten im Erdboden versinken. Sein Kopf ist knallrot und sein Haar so nassgeschwitzt, dass er frisch geduscht wirkt.

„Sungdeuk-nim", versucht er es, aber unser Trainer winkt müde ab, bevor er sich seiner Tasche zuwendet, in dem er seine Choreografien aufbewahrt. Hoseok löst sich mit Selbstverständlichkeit aus unserer Gruppe und beginnt, auf ihn einzureden. Ich höre etwas von Kürzungen und eine Verlagerung unserer Problemzone in den absoluten Hintergrund. Bevor er auch noch etwas von Stand-Ins murmeln kann, schüttelt Sungdeuk den Kopf und wendet sich uns wieder zu. Seine Wangen werden von roten Stressflecken geziert und mir tut es unwillkürlich Leid um all die grauen Haare, die wir ihm bescheren.

„Wenn es nur Seokjin wäre, schön und gut", wendet er sich wieder an uns und wir rutschen unwillkürlich ein Stückchen näher zusammen, „aber Namjoon, bei aller Liebe, deine Beinarbeit ist etwas vom Schlimmsten, das ich je sehen musste. Und Yoongi; sagt dir Rhythmus eigentlich irgendwas? Ansatzweise?"

Dieser öffnet prompt den Mund, um Sungdeuk eine wahrscheinlich ausgereifte, wohl konstituierte Antwort zu geben, die sich vermutlich mit allen Taktsystemen beschäftigt, die wir Normalsterblichen nicht einmal ansatzweise erfassen können—aber unser Trainer scheint dies zu antizipieren, denn er hebt die Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen. „Du bist Produzent, verdammt noch mal, Rapper obendrauf. Wieso kannst du dieses Taktgefühl nicht einfach auch auf Tanz übertragen?"

Es war ein Fehler, Yoongi-Hyung eine Frage zu stellen, die nach einer bissigen Antwort verlangt. Denn diese erfolgt. Natürlich tut sie das.

„Offen gestanden", sagt er sarkastisch und wir alle stöhnen auf, „kann ich auf diesen Scheiß ganz ehrlich verzichten."

Mir wird die Tragweite seiner Worte sofort bewusst, wahrscheinlich sogar vor Namjoon; der damals immerhin dabei war. Yoongi hadert seit der Konfrontation mit diesem idiotischen Rapper im November letzten Jahres immens damit, dass er tanzen muss. Diese Tatsache ist mir spätestens seit der Übellaunigkeit bewusst, die aus seinem Gesicht, seinen Gesten und Worten spricht, wenn uns das Studio zum Proben ruft. Für ihn ist Tanz (zusammen mit Make-Up) die Bestätigung der Tatsache, dass er unfrei ist. Dass er eben nicht tun kann, wie ihm beliebt, dass er nicht seinem eigenen Konzept zu folgen vermag—und gibt es etwas Schlimmeres für einen Rapper? Denn seien wir uns ehrlich; nach allem, was er hinter sich gebracht hat, ist er in erster Linie immer erst Rapper. Die Jahre in der Underground-Szene von Daegu haben aus einem von seinen Eltern verstoßenen Jungen einen hartherzigen, selbstsicheren Mann gemacht, der die Idol-Szene mit einer Mischung aus Selbstüberschätzung und Opportunismus betreten hat. Und jetzt ist er ihr Gefangener. Gibt es irgendetwas Schlimmeres für einen Freigeist, einen Rebellen, der seine Eltern verlassen hat, um sich selbst Autonomie zu schenken, als Kontrollverlust? Vorgaben?

„Entschuldigung?", fragt Sungdeuk scharf, und als Namjoon für seinen Hyung in die Bresche springen will, fährt unser ewig geduldiger Choreograf ihm einfach über den Mund. „Ich habe deine Kritikunfähigkeit die längste Zeit jetzt widerstandslos ertragen, aber irgendwann reicht es, Min Yoongi."

„Sungdeuk-nim..." Hobie, auf den unser Trainer üblicherweise allzeit hört, wird ebenfalls rundherum von der Hand gewiesen, während Sungdeuk auf Yoongi zutritt, der in der Mitte der Studiofläche steht und zu allem Überfluss auch noch die Arme vor der Brust verschränkt. Auf diese höhnische, apathische Art und Weise, deren Schutzwall ich die ersten Monate unseres gemeinsamen Weges nicht gewagt habe, zu übertreten.

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