Eine Phase

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„Es ist nur eine schlechte Phase, das geht wieder vorbei."

„Aller Anfang ist schwer, du schaffst das schon."

„Zeit heilt alle Wunden, und das auch bei dir."

„Du wirst schon lernen, damit umzugehen."


Ich weiß.
Ich weiß. Ich weiß. Ich weiß.
Es sind immer die selben, altbekannten Floskeln, die jeder zu einem sagt, wenn man ihnen mit seinem Leid auf die Nerven geht. Zumindest fühlt es sich so an, weil ich das denke, dass ihnen nichts Besseres einfällt als Ururgroßmutter Renate im Jahre 1918.
Und ja, wahrscheinlich haben sie auch recht, und Renate hatte es auch. Ich meine, wie sonst habe ich es geschafft alle Probleme in meinem bisherigen Leben zu bewältigen, die damals für mich als unlösbar galten? 


Aber mal ganz ehrlich: Wie lange dauert so eine Phase? Und ab wann ist es keine Phase mehr?
Es fühlt sich so an, als würde ich durch das Leben schweben und von einer ungesunden Lösung in die nächste rutschen. Ich will euch nicht erzählen, was ich alles mache oder gemacht habe; ich meine, es ist nichts Illegales dabei, aber Trigger bleiben Trigger. Und bekanntlich kann selbst ein einziges Wort einen Menschen in sein ganz persönliches Verderben stürzen und daran will ich definitiv nicht Schuld sein. Ich möchte einfach nur darüber schreiben, dass ich absolut keine Ahnung mehr habe, ob ich immer noch in einer Phase stecke oder ob diese Phase zu einem Teil meines Lebens geworden ist und ich es einfach nicht bemerkt habe, wie die Flut kam und mich mitsamt meinen Habseligkeiten, meiner Seele und meiner Stimme mit sich mitgerissen hat.

Allem Anschein nach, habe ich meine Taktik irgendwie perfektioniert. Ich mache ausschließlich Dinge, die nicht auffallen; die „normal" für Menschen sind, die sich in solch einer Situation befinden. Und vielleicht wirkt es auch so, als käme ich klar. Als würde mir diese ganze verdammte Scheiße absolut nichts ausmachen.

Im Prinzip bin ich also der geheime Garten und lasse niemanden herein, um mein eigenes, kleines Chaos im Schatten der Bäume zu verstecken. 

Aber wenn es Nacht wird, die Sonne schon lange untergegangen ist, kein Mensch mehr an dem Garten vorbei läuft und aus Höflichkeit fragt, ob es mir gut geht; wenn die Vögel aufgehört haben zu zwitschern, da merke ich, dass ich einfach immer noch am Fallen bin.

Als ob ich nachts meine Gefühle und meine Gedanken wieder anschalten und mir den Kopf zerbrechen würde. Und jede Nacht wird es mehr und es hört nicht auf, auch wenn ich mir nichts anderes wünsche als würde dieser dämliche Kopf, der auf meinen Schultern sitzt, endlich mal die Klappe halten. Es sind MEINE Schultern, und sie tragen dich, also mach doch einfach mal das, was ICH will und nicht, was du willst.
Die Sachen sind vorbei, sie gehören der Vergangenheit an, also warum lassen sie mich nicht los? Warum kann ich mich nicht befreien und einfach leben?

Fragen über Fragen über Fragen.
Und dann sitze ich da und lache, in Anwesenheit anderer Menschen. Und in den Momenten, das vergisst mich mein Kopf, lässt mich in Ruhe. Und vielleicht geht es mir da sogar gut. Vielleicht bilde ich mir alles aber auch nur ein und bin in Wirklichkeit der verrückte Hutmacher, der seit Tagen eine Tee Party feiert und nicht bemerkt, dass er schon viel zu spät dran ist.

Ist es also noch eine Phase oder mache ich mich kaputt? 

Hochsensibel, oder: 50x mehr fühlen als der Durchschnitt.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt