Ich bin kein Haus

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Letzens sagte jemand zu mir, dass der Weg des „richtig-Gesund-werdens" ist, als würde man ein Haus renovieren. Nach und nach spart man sich mühselig und ohne Rücksicht auf Verluste das Geld zusammen und dann kauft man sich neue Vorhänge, neue Stühle für das Esszimmer, einen neuen Couchtisch und vielleicht sogar einen neuen Teppich.

Zwischendurch ist man müde und kaputt- renovieren ist anstrengend und man versucht ja sowieso immer so viel wie möglich an einem Tag zu machen, weil man sich selbst so sehr unter Druck setzt und „normale" Menschen das ja auch so machen.

Und dann, ganz plötzlich, steht man da. Man hat endlich noch den Rest geschafft und alles hübsch dekoriert. Jedes Kissen auf dem Sofa ist frisch aufgeschüttelt und der neue Teppich ist flauschig und weich unter den Füßen.  Der Kamin ist an und es wartet eine warme Tasse des Lieblingstees auf dem Küchentresen.

Und alles ist perfekt- bis auf den Boden.

Der Boden ist schief, als hätte derjenige, der das Haus errichtet hat ein bisschen zu sehr seine Wasserwaage geneigt und es einfach so gelassen.
Wenn man also einen Ball in der Küche auf den Boden legt, dann rollt er bis ins Wohnzimmer als wäre er in einem Wettrennen gegen sich selbst. Er rollt bis an die Wand mit dem neuen 4K Ultra HD Flat Screen.
Und egal, wie oft man versucht, den Ball davon zu überzeugen, dass er zur Abwechslung mal an Ort und Stelle bleibt; er rollt immer wieder den selben Weg; da kann der neue Teppich so flauschig sein, wie er will.
Das Einzige, was man also tun kann, ist, den Boden so hinzunehmen, wie er ist.
Und das ist schwer.
Aber es ist möglich; man kann lernen mit einem schiefen Boden zu leben, so wie man lernen kann mit Hochsensibilität zu leben oder mit ADHS oder aber auch diversen psychischen Erkrankungen oder Autoimmunkrankheiten. Das ist heutzutage gar nicht selten, aber es spricht niemand darüber.
Und irgendwann ist der Boden gar nicht mehr so schief, wie er für andere scheint, die zum ersten Mal das Haus betreten. Für einen selbst ist der Boden gerade. Oder auch nicht, aber dann rennt man vielleicht mit dem rollenden Ball und schaut, wer schneller beim Fernseher ist.
Was ich damit sagen will?
Ich bin kein Haus.
Ich kann mich nicht perfekt renovieren und ich kann auch nicht zwanghaft normal sein, weil es „normal" in der Hinsicht nicht gibt.
Ich kann aber lernen mit mir so gut umzugehen und mich so gut um mich und meinen Körper zu kümmern, wie es für mich möglich ist.
Ich kann mich nicht so umbauen und herrichten wie ein Haus, welches perfekt und modern renoviert wurde.
Es gibt bei mir einen schiefen Boden und schmale Risse in den Ecken der Wände die man nicht zu spachteln kann, denn ich bin ein Mensch und kein Konstrukt.

Und das ist okay.

Hochsensibel, oder: 50x mehr fühlen als der Durchschnitt.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt