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"Was hast Du denn heute?"
Meine Mutter sieht mich total genervt an, da ich heute einfach mega schlechte Laune habe. Ist ja klar, wir fahren schließlich auch an einem Samstagmorgen zu meiner Schwester, um 8 Uhr schon musste ich aufstehen, weil meine Eltern sich einbilden, sie müssen ja mit meiner Schwester unbedingt mal Essen gehen.
Nicht nur das frühe Aufstehen, sondern auch die Outfitwahl bringen mich heute total zur Verzweiflung. Es ist so schwierig, etwas zu finden, das gut, aber auch wieder nicht zu gut aussieht. Das kann doch nicht wahr sein.
Aber nach einer halben Stunde habe ich endlich eine blaue Bluse und eine graue Hose aus dem Kleiderschrank gezogen und mit der Bestätigung meiner Mutter ein gutes Gefühl, das heute zu tragen. Es hat einen eleganten Touch, sieht aber nicht aus wie total aufgestylet.
Meine Haare in einen Pferdeschwanz zu binden sollte reichen. Passt. Sieht doch ganz akzeptabel aus.
Nach ein paar Strapazen sitzen wir endlich im Auto. Meine Stimmung ist eine Mischung aus aufgeregt, gestresst, vorfreudig und extrem verwirrt. Also eigentlich so wie die letzten paar Tage auch, uuups.
Ich brauche Entspannungsmusik, doch als ich so durch meine Playlist scrolle, merke ich, dass gerade kein Lied passen will. Tja, mies gelaufen. Sehr mies sogar.
Denn meine Anspannung steigt. Meine Nervosität wird immer schlimmer. Sogar Herzklopfen bahnt sich an. Dabei weiß ich nicht mal, ob ich sie heute sehen werde. Kann aber ja sein. Diese Ungewissheit macht es nicht besser, im Gegenteil. Und trotz meines Hungers kann ich mich auf nichts anderes konzentrieren, als die Möglichkeiten in meinem Kopf durchzugehen, ob und wie ich ihr heute begegnen könnte.
Nicht mehr lange und wir wären da. Langsam wird es immer unerträglicher, aber ich werde das schon irgendwie durchstehen.
Bei unserer Ankunft will ich schon gleich gar nicht aussteigen, doch meine Eltern bestehen blöderweise drauf, weshalb ich mich doch noch aus dem Auto bewege.
Blöd gelaufen, denn: Olivia ist diejenige, die uns die Tür öffnet.
Meine Eltern betreten vor uns die Wohnung und ich steh erst mal da wie dumm und schaue sie nur an, nicht imstande, etwas zu sagen oder zu tun. Dümmlich stehe ich im Hausgang und bewege mich kein Stück. Das veranlasst sie dazu, zu lächeln, mit ein wenig Triumph im Blick, und mich mit einer Handbewegung reinzubeten.
Obwohl sie nur dasteht, befinde ich mich in einer Art Schockstarre und nur mühsam kann ich die paar Schritte nach vorne an ihr vorbei in die Wohnung gehen. Ich traue mich dann auch nicht mehr, sie anzusehen, und schaue daher auf den Boden, während ich auf meine Eltern warte.
Doch ich spüre ihn. Diesen Blick auf mir. Als gäbe es nichts anderes zu tun, als mich anzusehen. Noch immer steht sie in der Nähe der Tür und, offensichtlich, starrt sie mich an, während sie da so steht.
Doch ich sehe weiterhin zu Boden. Zwar extrem verunsichert und mit steigender Aufregung, doch ich tue so, als würde ich mich gerade extrem langweilen. Die Atmosphäre ist ganz seltsam, wenn sie mich so scannt und ich so tue, als würde ich das gar nicht merken. Die Stimmung ist zum Zerreißen gespannt.
"So, packen wir's!"
Endlich, die erlösenden Worte meiner Mutter! Jetzt, wo alle mit hier stehen, lässt sie von mir ab und ist ganz normal, so als wäre nichts gewesen. Einer nach dem anderen verlassen wir das Haus, ich voran, regelrecht auf der Flucht vor dieser Wohnung.
Vor dieser Frau.
Obwohl ich ihr lieber ganz nah gewesen wäre.
Und für diesen Gedanken verpasse ich mir eine mentale Ohrfeige. Das gehört sich nicht. Ich sollte so nicht denken, geschweige denn fühlen und es mir noch so sehr wünschen. Aber während des ganzen Ausflugs, während der Fahrt, während der Bestellung, während des Wartens, während des Essens, während der Rückfahrt, war sie mein einziger Gedanke.
Und dementsprechend sinkt mir mein Herz erneut in die Hose, als meine Mutter entscheidet, noch in der Wohnung zu bleiben, sofern die Mitbewohnerinnen meiner Schwester nichts dagegen haben.
Tja, verdammt. Denn offensichtlich ist sie ja heute Zuhause.
Schon beim Aussteigen bin ich unglaublich nervös. Schon zum zweiten Mal heute habe ich extreme Nervosität vor dem Betreten der Wohnung. Und schon beim Aufschließen der Tür weiß ich nicht, wie ich das überleben soll.
Langsam meine Schuhe ausziehend und meine Jacke aufhängend sehe ich mich unsicher im Gang um und halte Ausschau, wer wo ist. Meine Eltern sind schneller als ich und gehen schon mit meiner Schwester ins Wohnzimmer. Wo der Rest der Menschen hier stecken, weiß ich nicht. Vielleicht sind ja die zwei anderen wieder weg, scheinbar sind sie ja eh nicht so oft daheim.
Aber Olivia ist hier.
Wie sich herausstellt, als sie aus der Küche tritt und mich ansieht.
Ihre Augen funkeln, was ich nicht deuten kann. Ihre Lippen ziehen sich zu einem Lächeln nach oben. Lässig lehnt sie sich gegen den Türrahmen, die Hände in den Hosentaschen, und sieht mich ganz entspannt an.
"Na?", meint sie.
"Na."
Wow, wie einfallsreich ich doch bin.
Und wieder stehe ich einfach nur rum und weiß nicht mit der Situation umzugehen. Um zu den anderen zu gehen, müsste ich einfach schnurstracks an ihr vorbeigehen, was ich definitiv jetzt nicht kann. Doch im Gang stehen zu bleiben war wohl kaum eine Alternative. Doch diese Entscheidung nimmt mir Olivia ganz zufällig ab.
"Willst Du mit in mein Zimmer? Die schauen da drin eh nur irgend einen dummen Actionfilm und wir können uns ja irgendwie anderweitig beschäftigen." Ihre Stimme war ruhig, ohne irgendeinen Unterton, einfach nur eine Einladung, der ich gerne folge und mich deshalb mit ihr in ihr Zimmer begebe.
Das Zimmer, in dem die 'anderweitige Beschäftigung' wohl durchaus doch anders gemeint war.

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