»Aurélie«, ein blasser Schimmer aus blauem Licht tränkte die Bettlaken »Aurélie, wach auf«, die Stimme von Maurice klang nun deutlicher in mein Bewusstsein durch. Ich spürte seine Hand auf meiner Schulter und vernahm in der Ferne ein dumpfes Poltern. Danach folgten zwei Schüsse, diese schienen jedoch in unmittelbarerer Nähe von uns abgefeuert worden zu sein. Mit einem Schlag war ich hellwach. »Sie sind hier...«, flüsterte Maurice und ließ das Licht der Taschenlampe erlöschen.
Ich wandte meinen Blick neben mich und sah wie Raphael langsam erwachte. Maurice schien trotz der Dunkelheit meine Kopfbewegung ausgemacht zu haben und sagte leise »Weck deinen kleinen Bruder auf, während ich Inès und Louna warne. Diese ''Dinger'' sind irgendwo im Ostflügel - wenn wir uns beeilen können wir...«
»Seit wann geben wir uns ohne einen Kampf geschlagen?«, meine Worte klangen vorwurfsvoller als ich eigentlich beabsichtigt hatte.
»Weil«, warf Maurice hastig ein »Wir nicht wissen, wie viele es sind«
»Das war nie ein Problem für unsere Familien«
»Aurélie, ich weiß das unsere Väter ihre Leben in diesem Krieg vor 4 Jahren ließen... aber sie waren die letzten Jäger, die gestorben sind. Es gibt keinen Schutz mehr, vor niemanden«, er seufzte »Und jetzt komm endlich«.
Mit einem halbherzigen Ruck weckte ich meinen kleinen Bruder auf und tastete danach im Dunkeln nach meiner Taschenlampe. Ich vernahm wie Maurice den Raum verließ und in das Nebenzimmer verschwand. Maurice war vielleicht gleich alt wie ich, aber sein Verhalten glich mehr einem besserwisserischen Kleinkind.
Der Schein meiner Lampe traf beim Aufleuchten in Raphaels verschlafenes Gesicht. Müde rieb er sich die geröteten Augen. »Was ist denn, Aurélie?«, als er das fragte, legte er seinen Kopf zur Seite und schien für einen Moment komplett vergessen zu haben, was diese nächtlichen Aktionen normalerweise zu bedeuten hatten. Aber er war gerade Mal sieben - ich konnte ihm nicht böse sein, wenn überhaupt, dann war ich ihm nur dafür neidisch, dass er alles um sich herum so leicht vergessen konnte.
Ich war gerade damit halbfertig geworden, unsere Schlafsäcke in den zerfransten Rucksack unterzubringen, als Maurice zurückkehrte. Seine Hände waren in Blut getränkt, sein hageres Gesicht blass und seine braunen Augen schimmerten matt auf. Ich fuhr aufgrund seines Anblicks augenblicklich in die Höhe »Was zum Teufel? Was ist...« »Sie sind tot... Inès und Louna... meine Tanten sie... sie sind tot«, seine Stimme klang mehr wie ein leiser Hauch, als eine Erklärung. Ich spürte wie meine Knie weich wurden, als ich fragte »Wie?«.
Maurice wandte seinen Blick auf meinen kleinen Bruder, der gerade gedankenversunken dabei war, seine dunkelblaue Regenjacke mit den gelben Enten anzuziehen. »Ich erkläre es dir später«, seine blassen Lippen zitterten »Wir müssen... müssen verschwinden... Jetzt«.
Mit einmal ertönte ein weiteres Poltern in dem Flur hinter mir. Ich zuckte wie vom Blitz getroffen zusammen, ließ den Rucksack instinktiv fallen und griff nach der Hand meines Bruders. Maurice nahm immer noch unter Schock das Jagdgewehr, welches ihn sein Vater vererbt hatte von dem kleinen Tisch in der Ecke. Mit einer steinernen Miene trat er hinaus aus dem Raum, blickte für einen kurzen Moment den Flur hinunter und schrie dann in meine Richtung »Lauft! Sie sind da!«.
Ich stolperte förmlich von Panik getrieben mit Raphael durch angrenzende Nebenzimmer und warf die letzte Tür im Westflügel mit einem lauten Knall zu. Ich ließ die Taschenlampe augenblicklich erlöschen und stellte im nächsten Moment fest, dass das silberne Mondlicht, das durch die mottenzerfressenen Vorhänge des verlassenen Châteaus drang, genug Licht spendetet, um sich im Raum auch ohne künstlicher Lichtquelle zurecht zu finden.
Plötzlich zog Raphael an meinem Mantel. »Schau«, sagte er leise und deutete auf die zwei leblosen Körper auf dem Boden vor uns. Ich vernahm einen Schuss hinter der Tür. Ich konnte in diesem Moment keine klaren Gedanken mehr fassen und spürte wie sich mein Körper wie von selbst, in Richtung der beiden leblosen Körper von Inès und Louna näherte.
Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch griff ich nach der dem Revolver, von dem ich wusste, dass ihn Inés immer unter dem Kissen aufbewahrte - oder besser gesagt, aufbewahrt hatte. Doch ich griff ins Leere. Ein weiterer Schuss fiel, dieses Mal weiter weg, was hieß, dass es Maurice tatsächlich gelang, diese Verdammten wegzulocken.
Im Schein des Mondlichts zog ich langsam die Decken von Maurice toten Tanten zurück. Dunkelrotes, fast schwarz schimmerndes Blut, tränkte ihre Haare. Ich wandte mich um »Raphael, dreh dich verdammt noch mal um«, befahl ich streng, als er versuchte näher zu kommen. Als ich meinen Blick wieder auf Inés richtete, bemerkte ich den Revolver in ihrer rechten Hand. Schlaff umfassten ihre kalten Finger den Abzug. Ein paar Kugeln lagen verstreut neben ihr.
Ich verstand schnell, was sie sich und ihrer Schwester angetan hatte. Die zwei Schüsse die zuvor gefallen waren, waren die Erlösung aus diesem Albtraum. Die beiden hatten keinen Willen, ja selbst keine physische Kraft mehr, noch einen weiteren Tag auf der Flucht zu leben. Mit einem lautlosen Seufzen entnahm ich die Waffe aus ihrer Hand. Sie würde sie ohnehin nicht mehr brauchen. Mit starrer Miene zog ich die mit Blut befleckten weißen Decken zurück über ihre Köpfe. Ich hatte bereits genug Leichen in meinem Leben gesehen. Selbst solche, die nachts lebend umherwandeln.
»Kann ich jetzt bitte wieder schauen?«, Raphaels Flüstern riss mich aus meinen Gedanken. Mit einem strengen »Warte noch«, wischte ich das Blut auf dem Revolver an meiner Jeans ab und begann hastig in den Taschen von Inés nach den restlichen Kugeln zu suchen. Ich hörte Schritte in unsere Richtung eilen.
Einige Sekunden später kam Maurice keuchend durch die Tür gestürmt »Ich konnte sie kurz abhängen, aber sie sind wieder auf den Weg hierher«, seine aufgebrachte Stimme war erfüllt mit Abscheu. Ich sah, wie er eines der Fenster öffnete und sich auf die schmale, staubige Fensterbank setzte.
»Spinnst du?«, keuchte ich »Wir sind im verdammten zweiten Stock!«
»Willst du lieber von diesen Monstern gefunden werden? Oder hast du eine bessere Idee?«
»Nein«, gab ich kleinlaut zurück.
»Die Weinreben auf der Fassade können wir als Halt benutzen«, erklärte Maurice und griff nach einer der Ranken. Hastig schulterte er sich sein Jagdgewehr und begann die Mauer hinab zu klettern.
Mit der genervten Bemerkung »So viel zu: Frauen und Kinder zuerst«, drängte ich Raphael zum Fenster hin. Mit einem besorgten Gefühl sah ich hilflos zu, wie mein kleiner Bruder den gefährlichen Abstieg langsam bewältigte. Als er schließlich den Boden erreicht hatte und ich mich gerade zum Abstieg überwand, spürte ich, wie mich etwas an meinen Haaren vom Fenster gewaltsam zurückriss.
Eine tiefe Stimme lachte höhnisch auf »Siehst du ihren Ring mit dem Wappen? Eine verdammte Jägerin«, eine andere, viel hellere Stimme erklang »Das sollten wir Rouven zeigen«. Erst jetzt kam es über mich, was gerade mit mir passierte - die Untoten hatten mich gefunden. Ich ließ einen gellenden Schrei los und versuchte mich vergeblich aus dem Griff zu winden.
Doch alles was ich zu fassen bekam, waren kalte knochige Finger die Eis glichen. Ich hörte wie mein Bruder zu weinen begann und Maurice panisch zu mir hinaufrief, da er nicht sah weder ahnen konnte, welches Grauen sich gerade ereignete. Noch bevor ich sie warnen konnte, spürte ich, wie der Griff sich löste und ich hilflos rückwärts, mit dem Kopf voran, auf den staubigen Steinboden zurück ins Zimmer fiel. Schwärze umhüllt mich.
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The Tale of Ice & Blood
Vampire»Wir sind verloren in einer Ewigkeit aus Eis und gefangen in der Unendlichkeit eines Blutstropfens. Alles was uns bleibt ist eine Sekunde. Eine einzige Sekunde, die alle Ozeane der Zeit gefrieren lässt.« Der dunkle König und seine Königin. Trigger...