Rund zwölf Meilen von Liverpools Stadtkern entfernt liegt die 6.000 Einwohner fassende Stadt West Kirby. Es ist ein beschauliches Örtchen mit einigen Märkten, drei Schulen, genauso wenigen Kirchen und einem Fußballverein, der nicht mal in der sechsthöchsten Spielklasse Englands spielt. Alle zwei Stunden fährt ein kleiner Bus die wenigen Fahrgäste nach Liverpool und wieder zurück. Nur wenige Touristen verirren sich nach West Kirby und wenn sie es tun, dann garantiert wegen der tollen Lage direkt am Meer. Dieses wird allerdings von einem Baggersee, dem Marine Lake, vom Ufer abgeschottet. Jedenfalls ist leicht herauszuhören, dass West Kirby keine besonders aufregende Stadt wäre, in denen besondere Dinge geschehen oder besonders interessante Menschen lebten. Denkt man dies allerdings, wird einem während eines Gesprächs in einem der Pubs mit einem Einheimischen schnell ein anderer Eindruck vermittelt.
„Nun ja, unsere kleine Stadt ist sicher kein Touristenmagnet oder, Gott bewahre, ein Ort, an dem Verrückte leben", würde man hören, „aber draußen an der Caldy Road, direkt an der Bushaltestelle, führt eine Einfahrt in ein unscheinbares großes Einfamilienhaus. Der Garten wird von einer dichten Hecke umschlossen, wirkt aber gut gepflegt." Die Geschichte würde so weitergehen, dass dieses Haus von außen einen völlig normalen Eindruck machte, aber die Bewohner gewiss Aufmerksamkeit auf sich zögen. Das liege daran, würde der Einheimische sagen, während er ein Schluck Bier tränke, dass sie so besonders unauffällig seien, und zwar im Negativen. Noch nie hätte jemand die Familie öfter als einmal im Monat hinausgehen sehen. Keine Wocheneinkäufe, keine Ausflüge, kein Arbeitsweg am Morgen und Nachhauseweg am Abend. Selbst der Sprössling der Blishwicks, er müsste um die zehn sein, konnte je gesehen werden, wie er in Uniform zur Schule ginge. Er schien auch keine Freunde zu haben, also musste er wohl zu Hause unterrichtet werden. Und das in West Kirby, wo die Schulen alles andere als überfüllt waren oder einen schlechten Ruf erlitten! Nachdem der Einheimische diese Geschichte zu Ende erzählt hätte, würde er einen Penny für das Bier dalassen und gehen. Die Gedanken des Zuhörers wollte er nicht mit anhören, der sollte sich seine ganz eigene Meinung dazu bilden. Allerdings gab es einen geheimen Trick, um noch mehr zu erfahren: Nur eine Person war in den letzten paar Jahren, in denen die Blishwicks das gut verborgene Haus in der Caldy Road bewohnt hatten, in den Garten gekommen. Der alte irische Postbote Oisin Teachtaire konnte sich an jedes Haus in West Kirby erinnern, gefragt wurde er jedoch, wenn überhaupt, immer nur nach dem mit der Nummer 47. Nach einem kurzen Stirnrunzeln würde dann die nächste Geschichte losgehen.
„Caldy Road 47, das berühmteste Haus der Stadt, hä? Eigentlich gibt es nicht viel zu berichten. Sobald man die immergrüne Hecke passiert hat, steht man in diesem riesigen Garten, der frisch riecht und aussieht. Die kümmern sich da ziemlich gut drum, im Sommer blühen immer die buntesten Blumen, im Winter sind es Nadelbäume, deren Blätter nie sterben. Das Haus selbst sieht aus wie jedes andere Einfamilienhaus in der ganzen Merseyside. Rotbrauner Backstein, Erkerfenster im Erdgeschoss und normale, weitläufige im oberen Stockwerk. Ach ja, riesiger Schornstein nicht zu vergessen. Was man durch die Fenster sehen kann? Altmodische Einrichtung. Holz, Holz und noch mehr Holz und viele Kerzen. Sind wohl keine Freunde der Elektrizität, diese Blishwicks, nicht? Ach ja, die Tapeten. Alles, was man sehen kann sind ganz viele Blumen und das nicht nur auf den Wänden. Eigentlich an allen Fenstern, jaja. Sonst kann ich nichts sehen." Und damit würde sich Mr. Teachtaire wieder seiner Post zuwenden und nur noch mit einem reden, wenn man Post abzugeben oder abzuholen hätte. Damit wäre die Reise beendet, außer man hatte den Mumm, die arme Familie Blishwick zu besuchen, nur um herauszufinden, ob sie wirklich normale Menschen oder irgendwelche Kreaturen waren. Und so töricht oder unverschämt war nun wirklich niemand.
Obwohl es schon neun Uhr abends war, lange nach der Schlafenszeit Edwards, wuselte der zierliche Junge aufgeregt durch sein Zimmer. Verzweifelt suchte er nach einem dunkelgrünen Pullover, seinem absoluten Lieblingskleidungsstück, welches er aber einfach nicht finden konnte. Auch die siebte Schublade seines großen Schranks wurde frustriert zugeknallt und der Junge, der tatsächlich elf und nicht zehn Jahre alt war, fuhr sich verwirrt durch seinen strohblonden Scheitel. Wo kann dieser verdammte Pulli nur stecken, ich habe ihn doch gestern noch gesehen, dachte er. Eddie, wie er lieber genannt werden wollte, brauchte dieses Oberteil wirklich dringend, denn morgen würde er in sein neues Internat gehen und das garantiert nicht ohne seinen Lieblingspullover!
DU LIEST GERADE
Riddle - Aufstieg des Bösen: Das erste Jahr
FanfictionAn Silvester 1926 gebärt die schwächliche Merope Gaunt kurz vor ihrem Tod einen Jungen, den sie Tom Vorlost Riddle nennt, ganz nach dessen Vater und Großvater. Tom wächst in einem Londoner Waisenhaus auf und zeigt sich sofort als etwas Besonderes, e...