Prolog

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Wool's Waisenhaus, London am 31. Dezember 1926, Mittagszeit

Der graue Himmel, der sich in den Tagen seit Weihnachten über London niedergelassen hatte, wollte sich auch in den letzten Stunden des Jahres nicht verziehen. Die dicken, bauschigen Wolken hingen tief über der Großstadt und ließen kaum Licht zu. Obwohl es gerade erst Zeit für das Mittagessen war, hätte sich kein Kind gewundert, wenn es plötzlich dazu aufgefordert worden wäre, ins Bett zu gehen. Und wie Wolken es nun mal mit sich trugen, mussten sich natürlich auch die schwarzen Düsterwolken irgendwann einmal abregnen und konnte man den Zeitungen Glauben schenken (und das tat die britische Gesellschaft in diesen Tagen), würde dieses Ereignis ausgerechnet auf die Silvesternacht fallen, in der man eigentlich im Vorgarten mit der Familie, einigen Freunden oder den Nachbarn auf das neue Jahr anstoßen sollte und nicht im eigenen Haus gefangen sein.

Diese Tradition gab es im Wool's Waisenhaus im Norden Londons, das sich dem Regen farbtechnisch angepasst hatte, aber sowieso nicht. Seine Außenwände waren grau, die Inneneinrichtung spärlich und unpersönlich, also genau das Gegenteil von dem, was eine schöne Kindheit bereiten sollte. Allerdings war es sowieso schwierig über eine schöne Kindheit zu reden, wenn man bedachte, dass die Eltern der Bewohner eines Waisenhauses entweder gänzlich oder zumindest psychisch tot waren und die meisten Kinder so nie wahre Liebe hatten erfahren dürfen.

Silvester in diesem Waisenhaus, um auf das Kernthema zurückzukommen, war also wie jeder andere Tag auch, nicht einmal die zwei Pflegerinnen gönnten sich zum Jahreswechsel eine Ausnahme der Routine. So war es für die Kinder nichts Außergewöhnliches, ausdem Fenster zu schauen müssen aus dem man vor lauter Regentropfen jedoch kaumetwas erkennen konnte Was allerdings bemerkbar war, bemerkbar schlecht wohl gemerkt, ist die Tatsache, dass die Kinder den Lärm der trompetenden Autos trotz des heftigen Regenfalles durch die undichten und nassen Fensterscheiben hindurch hören konnten. So drückten sich die Jungen trotzdem vor die feuchten Scheiben und zitterten ein wenig, während sie das Unmögliche versuchten: die Automobile an der Hupe zu erkennen. Die Mädchen hingegen saßen größtenteils in Grüppchen zusammen und unterhielten sich über dies und das, manche mit schmutzigen Puppen unterm Arm, andere nicht. Die Schleifen in ihren Haaren, allesamt früher bunt und fröhlich, waren grau.

Das Personal, bestehend aus den beiden Aufseherinnen Mrs. Cole und Mrs. Phelps sowie der Küchenkraft Mrs. Edna, schwirbelte (mit Ausnahme der Köchin) im Gebäude herum und versuchte vergeblich, die wenigen herumlaufenden Kinder im Zaum zu halten. Sobald eine der Aufseherinnen ihre Aufmerksamkeit einem anderen Kind widmete, war das Schreien des vorherig ermahnten wieder zu hören. Mrs. Cole hatte erst vorletzten Sommer im Wool's angefangen und war dementsprechend jung, doch ihr Aussehen zeichnete sie schon jetzt als überforderte Betreuerin in einem überfüllten Waisenhaus aus. Ihr Blick wirkte fast immer streng, ihre Wangenknochen standen scharf hervor. Dennoch war sie keineswegs eine schlechte Aufseherin. Die Kinder guckten zu ihr auf und mochtensie und sie mochte die Kinder, doch konnte das nicht oft zeigen. Sie mussteneben den Kleinen auch noch Mrs. Phelps, die bald in den Ruhestand treten würde, ein wenig behüten, damit die alte, grauhaarige Frau nicht zu streng mit den Jünglingen umsprang. Während Mrs. Cole nämlich nach Möglichkeit auf Bestrafungen verzichtete (Gewalt hatte sie noch nie angewandt, selbst böse Worte waren ihr erst ein paarwenige herausgerutscht), lief Mrs. Phelps fast nur mit ihremRohrstock herum und suchte nach den nächsten Fingern, die sie schlagen konnte.                                                                           

                                                                                                                                                                                                  „Ach schrecklich, das Wetter wird immer schlimmer", maulte Mrs. Phelps, als die beiden Aufseherinnen sich bei ihren Patrouillengängen vor der Kantine trafen.

Riddle - Aufstieg des Bösen: Das erste JahrWo Geschichten leben. Entdecke jetzt