Neuanfang

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Clairoix. Ein kleiner Ort, kaum einen Tag Fußweg von Paris entfernt und ein Ort, in dem man jeden Tag ums überleben kämpfte. Es waren zu wenig Lebensmittel vorhanden, das Wasser war knapp und Krankheiten breiteten sich aus. Es gab jeweils zwei Schänken und Gasthäuser, einen Bäcker, mehrere Bauern, einen Tischler und einen Schreiner. Nahrung wie Käse und Wurst bekam man in einem kleinen Laden in mitten von Clairoix. Doch es war teuer und viele hatten wenig Geld. Die Menschen versuchten das Beste aus ihrer Situation zu machen, doch sie waren verärgert, ängstlich und traurig. Sie bekamen keine Hilfe und fühlten sich alleine. Der König kümmerte sich nicht um das Gesinde, wie er sie so schön nannte. Das Einzige was für ihn zählte, war seine Königin, sein Adelsvolk und seine Musketiere.
„Au!" schrie Fleur aus dem Nichts. Sauer schmiss sie die Mistgabel zu Boden und betrachtete das Unheil, welches sie angerichtet hatte. Durch ihre abschweifenden Gedanken hatte sie nicht mehr auf ihre eigentliche Arbeit geachtet und sich die spitzen Stäbe in ihren Fuß gerammt. „So ein Mist." sagte sie zu sich und sah, wie sich langsam das Blut einen Weg aus ihrem Schuh suchte. Fleur verdrehte die Augen. Das alles hatte ihr wirklich gerade noch gefehlt. Nach Hause konnte sie nicht, dafür hatte sie zu wenig Ernte beschaffen. Nun hieß es also Zähne zusammenbeißen. Sie verband ihren Fuß mit einem Taschentuch, hob ihre Mistgabel vom Boden und machte sich erneut an die Arbeit. Als die Sonne langsam anfing, sich hinter den Bäumen des Walds zu verstecken, begann Fleur, ihr Gemüse beisammen zu nehmen und ihr dazugehöriges Werkzeug zusammen zupacken. Sie setzte sich auf ihre Stute Alisée und ritt mit ihr Richtung Heimweg. Als die Sonne schon am Himmel verschwunden war, kam Fleur bei ihrer Gastfrau, Madame Dupois, an. Sie brachte Alisée in den Stall und begab sich danach ins Innere des Gasthauses. Ihre Hausherrin war gerade dabei, dass am Morgen verdiente Geld zu zählen, als sie Fleur einen verachtenden Blick zuwarf. Fleur war nie gut auf Madame Dupois zu sprechen gewesen. Sie konnte sie nicht ausstehen, aber sie hatte sonst niemanden mehr. Es war eine einzige Qual. Madame Dupois behandelte sie seit der ersten Sekunde wie eine Sklavin. Fleur war mit 10 Jahren zu ihr gekommen. Zuvor war sie im Gasthaus von Madame Mallaury in Noyon gewesen. Dort ist ihre Mutter hin gegangen, nachdem Fleurs Vater verstorben war und selbst nachdem ihre Mutter gestorben ist, blieb sie für ein weiteres Jahr bei ihr. Aber dann starb die gute alte Hausherrin und Fleur wurde mit 4 Jahren in ein Waisenhaus nach Clairoix gegeben. Mit 10 Jahren kam sie zu Madame Dupois. Etwas anderes blieb ihr nicht übrig. Ansonsten hätte sie auf der Straße leben müssen, da dass Waisenhaus Kinder in dem Alter nicht mehr unterbringen konnte und Obdachlos wollte sie nicht sein. Jetzt arbeitete Fleur seit knapp 5 Jahren hier und musste sich um alles kümmern. Den Haushalt, das Putzen des Geschirrs, der Tische, des ganzen Gasthauses, die Ernte, das Waschen der Wäsche, die Einkäufe, das Essen. An manchen Tagen wünschte sich Fleur, sie wäre auch gestorben, wie ihre Eltern. Sie konnte nicht nachvollziehen, warum ausgerechnet ihre Eltern Tod waren. Das sie ihren Vater nie kennen lernen durfte und das sie mit 3 Jahren auch ihre Mutter verlor. „Fleur!" schrie Madame Dupois. Fleur erschrak, als sie aus ihrer Gedankenwelt gerissen wurde. Die Gastfrau stand mittlerweile direkt vor ihr und blickte genervt auf sie herab. „Entschuldigung Madame. Könntet ihr eure Aussage bitte wiederholen? Ich habe euch nicht verstanden" sagte sie kleinlaut. Madame Dupois wurde wütender. „Fleur Fournier. Du bist ein so ungezogenes Weib. Erst klaust du das Geld aus der Kasse und nun, wo ich dich darauf anspreche, besitzt du die Dreistigkeit mich wiederholen zu lassen!" Fleur versuchte, das Gesagte in ihrem Kopf zu verarbeiten. Sie soll Geld geklaut haben? Aber das konnte nicht sein. Es war überhaupt nicht ihre Aufgabe sich darum zu kümmern und sie hatte in ihrem ganzen Leben noch nie die Kasse angefasst. Zu große Angst hatte sie, dass Madame Dupois ihr etwas unterstellen könnte, so wie jetzt. Allerdings konnte sie darüber nicht weiter nachdenken, denn da erhob die Gastfrau wieder das Wort. „Ich hätte dich damals nie aufnehmen dürfen. Du bist nichts als eine Last für mich. Du erledigst kaum die dir aufgetragenen Aufgaben und wirst sogar frech, wenn man dich darauf anspricht. Und zu aller Krönung klaust du mir jetzt das Geld. Du bist ein Miststück Fleur. Pack deine Sachen und dann mach dass du wegkommst. Ich will dich hier nie wieder sehen!" Fleur merkte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Sie konnte nicht fassen, was ihr gerade vorgeworfen wurde. Sie tat alles für ihre Gastfrau und nun wurde sie als ein ungezogene Diebin dargestellt. Wie gelähmt stand sie dort, unfähig etwas zu sagen oder sich vom Fleck zu bewegen. Madame Dupois' Augen waren mittlerweile zu schlitzen verformt und sie sagte gefährlich leise „geh deine Sachen holen, so lange ich dir noch die Chance dazu gebe." Dies realisierte Fleur und rannte nach oben. Sie nahm einen großen Beutel und steckte all ihre Habseligkeiten hinein. Viel war es nicht. Drei verwaschende Kleider, zwei Unterkleider und ein paar Stoffschuhe. Sie ging zu ihrem Bett und hob ihr Kissen hoch. Darunter war ein Dolch versteckt, den sie seit ein paar Jahren besaß. Sobald Fleur zum Feld losgeschickt wurde, war dies ihr ständiger Begleiter. Man konnte nie wissen, wer einen im Wald versuchte anzugreifen, ob es nun wilde Tiere oder Gauner waren. Oftmals kämpfte sie auch für sich alleine, ging mögliche Szenarien in ihrem Kopf durch und versuchte ihren Gegner klein zu bekommen. Oder sie traf Nicolas, der junge Schmied der Familie Moreau und sie übten ein wenig zusammen, meistens war dafür aber kaum Zeit vorhanden. Auch wenn sie vermutlich noch nicht viel gelernt hatte, Fleur fand dennoch, dass sie sich sicherlich wehren konnte.
Danach stand sie vor ihrem Tisch. Dort befand sich eine Kerze, um die sie ihren Rosenkranz gelegt hatte, ein paar Blumen in einem Wasserkrug und an der Ecke lag die Kette ihrer Mutter. Diese hatte sie ihr zur Geburt geschenkt. Ihr Blick blieb lange daranhängen. Wieder einmal schweiften ihre Gedanken ab und sie dachte an ihre Eltern. Warum nur musste ihr solch ein Unglück widerfahren? Für sie war es unverständlich, warum sie so leiden musste. Warum hatte Gott sie zur Sklavin verurteilt. Fleur merkte, wie sich eine Träne von ihrem Auge löste, während sie mit dem Finger über die Kette strich. Doch plötzlich vernahm sie von unten das Geschreie ihrer Gastfrau. Fleur steckte den Rosenkranz und die Kette in ihren Beutel und ging langsam die Treppe runter. „Da bist du endlich. Und nun mach das du hier raus kommst. Genug Geld für deine Reise solltest du ja jetzt haben." sagte Madame Dupois verachtend. Fleur blieb im Raum stehen und fand endlich nach Ewigkeiten ihre Stimme wieder. „Madame, ich habe euch nie beklaut. Das Geld, was euch fehlt, habe ich nicht. Es muss jemand anderes entwendet haben. Ich bitte euch, wenn ich schon gehen muss, für eine Tat die ich nicht begangen habe, mir etwas Kleingeld zu geben. Ich flehe euch an" sagte Fleur kleinlaut, aber die Miene ihrer Gastfrau verfinsterte sich und ihre Augen blitzten vor Wut. „Eine Lügnerin bist du auch noch. Erst meinen Verdienst klauen und jetzt so tun, als ob du das ärmste Weib auf Erden wärst. Mach bloß das du hier weg kommst und lass dich nie wieder blicken Fleur Fournier."
Mit diesen Worten wurde Fleur aus dem Gasthaus geworfen und stand auf der Straße. Von weiter weg bemerkte sie, wie die ersten Gäste Richtung des Hauses kamen. Sie wollte nicht, dass die Menschen sie so sahen und verschwand schnell im Stall. Diese Blöße wollte sie sich nicht geben. Als sie bei ihrer Stute Alisée war und diese erst einmal mit 2 Möhren fütterte, überlegte sie sich was sie nun tun sollte. Es war dunkel, sie konnte doch nicht zu dieser Uhrzeit durch den Wald. Wer weiß, auf wen sie dort treffen würde. Aber was blieb ihr anderes übrig? Wenn Madame Dupois sie in der Nacht oder gar am Morgen hier im Stall finden würde, gäbe es für Fleur große Probleme und sie mochte sich gar nicht ausmalen, welche das waren. Sie atmete tief durch, sattelte Alisée, beschaffte sich durch leichtes einreißen ihres Kleides mehr Beinfreiheit, zog sich ihren Mantel tiefer ins Gesicht, warf sich ihren Beutel um und setzte sich auf ihre Stute. Langsam ritt sie aus dem Stall heraus und blickte noch einmal mit gemischten Gefühlen auf das Gasthaus zurück.
Dann endlich ritt sie los. Raus aus der Gasse, raus aus dem Dorf und rein in den Wald. Ihr Ziel hatte sie recht schnell bestimmt. Paris! Die große Stadt, wo die Adeligen und der König mit seiner Königin hausierten. Der Ort, von der sie aus Erzählungen, die sie im Gasthaus aufgeschnappt hatte erfuhr, dass mehr Geld, Essen und Beschäftigungen vorhanden waren. Dort hatte sie die Hoffnung, in einem Gasthaus aufgenommen zu werden und arbeiten zu können.

Im Wandel der Zeit  ||  Musketiere / MusketeersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt