26. Brandon

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November

Das Zimmer, was sie mir zugeteilt haben, ist dunkel und klein. Ich will mich nicht beschweren, es ist hundertmal besser als der Keller, aber ich wäre trotzdem gerne woanders. Ich starre das reiskorngroße Komm auf meiner Handfläche an. Mein Entschluss, sofort zu gehen, ist durch meine Begegnung mit Clare ordentlich ins Wanken geraten. Vielleicht war das ja auch ein cleverer Schachzug von ihnen, mich zu Höchstleistungen anzuspornen, als würde man einen Drogensüchtigen seine Droge versprechen, wenn er nur bleibt und nach den Regeln tanzt wie eine Marionette.

Ich bin keine Marionette. Ich werde Clare hier rausholen und mich nicht von ihnen einwickeln lassen. Sie haben meine Nachbarn brutal ermordet, dieses Bild werde ich vor mir tragen wie ein Schild.

Ich bin nur so unendlich froh, dass es Clare gut geht. Anscheinend hatte sie eine Lungenentzündung, aber sie ist wieder vollständig gesund. Ich kann die alte Lebensfreude in ihren Augen lodern sehen. Außerdem hat sie mir selbst zugeflüstert, dass es ihr gutgeht und sie Freunde gefunden hat. Wenn sie mit Freunde dieses seltsame Mädchen mit den Narben meint, dann erhebe ich aber Einspruch. Sie sieht nicht vertrauenswürdig aus. Ich weiß nicht, was es genau ist. Nur so ein blödes Gefühl.

Ich rolle das Komm hin und her, das Metall ist eiskalt. Nein, ich werde Tommy nicht kontaktieren. Ich rette Clare. Ich bestehe ihre bescheuerten Tests. Dann bin ich halt eine von ihren Puppen. Ich werde beim Schauspiel mitmachen und dann, beim großen Finale, werde ich ihnen allen ein Messer in den Rücken rammen.

Ich drücke das Komm gegen die Haut meines Ohrs und spüre das leichte Ziehen, als es sich wie ein Blutegel festsaugt. Dann rolle ich mich auf dem Bett mit der dünnen Matratze zusammen und schließe die Augen. Der ganze Stress des Tages fällt von mir ab. Ich erwarte nicht einzuschlafen, spüre aber trotzdem, wie der Schlaf an mir zerrt.

***

Die Tests sind anscheinend größtenteils medizinischer Natur. Zusammen mit anderen Neulingen, die aber alle schön länger da sind als ich, sitze ich in einem wartezimmerähnlichen Raum und warte darauf, aufgerufen zu werden. Nach einem kurzen Frühstück, das aus einer seltsamen Vitaminpaste bestand, haben uns ein paar Soldaten hierher geführt. Die meisten Rekruten sind in meinem Alter oder in ihren Zwanzigern. Ich kann meine Nachbarin nirgends erkennen. Mit ein paar der Rekruten habe ich mich unterhalten, die meisten sind Waisen. Ohne Perspektive.

Ich werde aufgerufen und folge einer Soldatin in den Nebenraum, in dem eine Liege bereitsteht, auf die ich mich legen soll. Während der nächsten halben Stunde entnimmt eine blonde Ärztin mir alle möglichen Proben. Von Hautzellen über Ohrenschmalz über Knochenmark ist alles dabei. Alle erdenklichen Körperflüssigkeiten. Als ich vom Stuhl gleite, nickt sie mir kurz zu, wie um zu zeigen, dass alles in Ordnung ist.

Ich hoffe, sie hat das Komm nicht entdeckt.

Sie schicken mich durch einen Ganzkörperscanner, ermitteln meinen Körperfettanteil, der nach meiner neuen Diät unmöglich groß sein kann. Einer der Rekruten hat mir erzählt, dass sie diese Daten für unsere Ausbildung zum Soldaten nutzen. Um die Geräte für uns einzustellen und uns die richtigen Vitamine und Nährstoffe zuzuführen. Erscheint mir aber ein bisschen viel Aufwand.

Groß Möglichkeiten zum Spionieren bieten sich mir nicht, weil immer irgendjemand im Raum ist. Ich beschließe aber trotzdem, Tommy einen kurzen Bericht zukommen zu lassen. Gerade, als ich das Komm zwischen meinen Fingerspitzen reiben will, klopft es an der Tür.

„Herein", murre ich. Bitte nicht noch mehr Tests. Ich habe schon genug. Hastig verstaue ich das Komm wieder an der gewohnten Stelle.

Die Tür schwingt auf und Clare kommt hereingestürmt, das seltsame Mädchen im Schlepptau. Gerüchte verbreiten sich hier schneller als die Grippe und ich habe schon einiges über sie gehört. Anscheinend ist sie Dr. Ruths Liebling, genießt Sonderrechte – sie musste zum Beispiel nicht hier wohnen – und ist komplett durchgeknallt. Anscheinend hat sie ihr Gedächtnis verloren, während sie bei einem Brand in einem Gebäude gefangen war. Die meisten sind aber davon überzeugt, dass sie nicht nur ihr Gedächtnis, sondern auch ihren Verstand komplett verloren hat. Noch ein Grund mehr, vorsichtig zu sein.

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