77. Jade

46 5 0
                                    

Tag 55

„Halte durch, Jade. In Ordnung?" Arme greifen nach mir, wollen mich mitziehen. In meinem Körper explodiert Schmerz und ich schreie auf. „Ich bringe dich in Sicherheit, verstanden?"

Ich reagiere nicht. Jede Muskelregung saugt mir die Kraft aus dem Körper. Mein Leben versickert mit meinem Blut langsam im Pflaster des großen Platzes. Ich sehe Wolken, grau türmen sie sich am Himmel auf. Beinahe meine ich schon, Schnee auf meinen Lippen zu schmecken. Aber es ist nur Blut und Schmerz und Kälte.

Beeil dich, Bran.

„Stirb nicht, Jade, okay?" Eine kleine kalte Hand umfasst meine. Clare. Ihr rotblonder Schopf schiebt sich in mein Gesichtsfeld. Sie braucht dringend eine neue Brille.

Meine Güte, mein Kopf ist schon weich.

Ich möchte mich aufrappeln, doch es geht nicht. Die rettenden Häuserfronten sind Meilen entfernt.

Plötzlich geht Tommy zu Boden, als man ihm einen Knüppel über den Kopf zieht. In meiner wabernden Welt sehe ich nicht, wer ihn getroffen hat. Wie ein nasser Sack fällt er auf den Asphalt und bleibt reglos liegen. Blut sickert aus einer Kopfwunde.

Ich schmecke Blut auf meiner Zunge. Bald. Lange kann es nicht mehr dauern. Komischerweise bin ich seltsam ruhig. Ist es Akzeptanz? Oder so etwas wie Gleichgültigkeit? Resignation?

Clare schreit auf, als sie zur Seite gestoßen wird. Ihre Hand entgleitet meiner, als sie auf die Knie fällt.

Eine blonde Frau schiebt sich in mein Blickfeld. Ein Engel? Nein. Josephine. Ihre grünen Augen sind so weit aufgerissen, dass sie fast ihr Gesicht ausfüllen.

„Komm mit mir, Jade. Ich kann dich retten", ruft sie. Ist das Panik in ihrer Stimme? „Du darfst nicht sterben!"

Ich möchte nein sagen, den Kopf schütteln, aber die Worte bleiben in meinem Hals stecken. Es ist zu spät. Das Gebäude wird in wenigen Minuten in die Luft fliegen. Unser Todesurteil wird unterzeichnet sein, wenn wir das Glasungetüm betreten.

Josephine packt mich an den Armen und schleift mich über das Pflaster. Der Beton reißt an meinen Kleider und und jeder Kieselstein lässt meinen fiebrigen Körper vor Schmerz erzittern.

Oh bitte, lass es bald vorbei sein.

Ich will nicht sterben.

„Mama, halt!" Da ist sie. Meine Stimme krächzend, sterbend. Schwach.

Josephine hält inne, ihre Arme zittern heftig. Sie verliert gerade ihr einziges Kind. „Was ist, Schatz?" Ihre Stimme ist beinahe ein Spiegel meiner eigenen. Schwer, schwach, belegt. In diesem Moment sieht sie so verletzlich aus, dass ich sie am liebsten in den Arm genommen hätte.

Tränen stehlen sich aus meinen Augen. „Es ist vorbei", wispere ich. „Das... Gebäude... wird explodieren." Ich presse jedes einzelne Wort heraus, während Mamas Gesicht langsam immer weißer wird.

„Nein! Jade, nein! Ich kann dich retten. Da oben sind Instrumente, Blutkonserven, Medi –"

„Mama", unterbreche ich sie. In meinem Hals hat sich ein dicker Kloß eingenistet. „Es ist... vorbei. Nichts... kann mich... retten."

„Mein Baby!" Sie stürzt zu Boden, ihre Knie knicken ein. Ihr Gesicht ist nur noch eine verzerrte Erinnerung der stolzen entschlossenen Frau, die der Welt ihre wohl gepflegte Fassade präsentiert. Jetzt sehe ich sie. Mama. Die Frau, die mich im Arm gehalten hat, als ich die fremde Welt zum ersten Mal erblickt habe. Die Frau, die mir abends Bücher vorgelesen hat und mir, wenn ich nicht schlafen konnte, heiße Milch gemacht hat.

Vielleicht sind das nur Visionen, die der Tod beschwört. Vielleicht ist es die Wahrheit. Egal. Das Gefühl zählt. Der kleine Ball von Wärme in meinem Inneren.

Mama schlingt ihre Arme um mich und wiegt mich hin und her, als wäre ich ein kleines Kind. Sie summt etwas, ein Schlaflied. Heiße Tränen treten mir in die Augen. So soll es nicht sein. Es ist unnatürlich. Eine Mutter sollte ihr Kind nicht vor ihr sterben sehen.

„Ich will nicht sterben", flüstere ich.

„Ich weiß." Mama streicht mir eine verschwitzte Strähne aus dem Gesicht. In ihren Augen glitzern Tränen. „Jade, mein Schatz, ich muss dir noch etwas gestehen. Dein Leben soll keine Lüge gewesen sein."

Ich erstarre. Mein Innerstes kehrt sich nach außen.

Und sie beginnt zu erzählen. Von ihrem besten Freund, der sie liebte. Von gemeinsamen Abenden, Tagen, Morgen. Von seiner Hochzeit, seinem ersten Kind. Von ihrer Affäre. Nur ein Abend, nur ein bisschen zu viel Wein. Und plötzlich war sie schwanger. Er konnte seine Frau nicht verlassen, wollte es nicht. Und so tat meine Mutter das unselbstsüchtigste der Welt: Sie verheimlichte es ihm.

Während die letzten Geheimnisse vor mir enthüllt werden, spüre ich den Tod langsam an mir zerren.

Ihre letzten Worte verklingen. Jade, Tommy ist dein Bruder...

Ich blicke ihr in die traurigen Augen, während die Schwärze um mich herum meine Welt verschluckt. Ich verzeihe ihr. Was soll ich sonst tun? Sie hat mir eine Familie gegeben. Einen Bruder.

„Bombe", erinnere ich sie, weil ich wenigstens sie retten möchte. Mehr bekomme ich nicht raus.

Ich wünschte, ich könnte Bran noch ein letztes Mal sehen.

Die EliteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt