Abschnitt 2

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Es war genau sieben Uhr, als Jessies Radiowecker zum Leben erwachte. Kenny Loggins schmetterte gerade ein ...highway to the danger zone... aus seinem bekannten Song Danger Zone durchs Radio. Jessie reckte sich genüsslich, kuschelte sich noch einmal in ihre Decke und lauschte dem Song. Als die letzten Akkorde davonschwebten stand sie gähnend auf und schlurfte zu ihrem Kleiderschrank. Ihr Blick wanderte prüfend über ihre Sachen, dann entschied sie sich für eine dunkelgrüne Hotpants, eine weiße ärmellose Bluse mit Wasserfallausschnitt und ein Halstuch in dunklem Violett. Jessie liebte Halstücher; sie besaß diese in allen möglichen Farben, Formen und Längen. Ihre Mutter konnte immer kaum fassen, dass Jessie trotz ihrer großen Auswahl immer wieder Halstücher fand, die sie noch nicht ihr Eigen nannte. Jetzt fehlte nur noch frische Unterwäsche und Jessie verschwand im Badezimmer. Nachdem sie sich gewaschen, angezogen und ein wenig Make-up aufgelegt hatte (okay, okay, bei den Augenrändern auch etwas mehr) fühlte sich Jessie um einiges wacher; den Rest würde eine Tasse Kaffee schon richten.

Jessie ging die Treppe zum Erdgeschoss hinunter und betrat die Küche in der ihre Mutter bereits das Frühstück vorbereitet hatte. Sie und ihre Mutter wohnten in einem kleinen Einfamilienhaus in einer ruhigen und idyllischen Vorstadtsiedlung am Rande von Ferryspring in Texas. Das Haus gehörte der Firma für die ihre Mutter im Moment arbeitete. Da Jessies Mutter als freischaffende Headhunterin tätig war und es nie wirklich lange an einem Ort auszuhalten schien, wechselten sie und Jessie häufig den Standort. Ihre Mutter war in ihrem Job erfolgreich genug, dass die Firmen die sie beauftragten nicht gerade selten eine Wohnung oder, wie in diesem Fall, sogar ein ganzes Haus zur Verfügung stellten. Als Kind empfand Jessie die ständigen Umzüge als Abenteuer. Mittlerweile jedoch gingen sie ihr einfach nur noch auf die Nerven. Sie hatte nie wirklich Freundschaften knüpfen können. Diesmal war es jedoch anders. In der Ferryspring High School hatte Jessie schnell gute Freunde gefunden, nicht zuletzt aufgrund der Tatsache dass sie bereits verhältnismäßig lange hier wohnten. Ihre Mutter schien ausnahmsweise auch einmal weniger gehetzt; ihr gefiel es offenbar ebenso gut in Ferryspring wie ihrer Tochter. Jessie sah ihre Chancen steigen, dass sie zumindest das Abschlussjahr hier vollenden könnte und wer weiß, vielleicht würden sie sich ja hier tatsächlich für immer niederlassen...

„Morgen, Mom." Jessie setzte sich an den Küchentisch.

Heather quittierte Jessies Gruß mit einem Lächeln und goss ihr einen Kaffee ein. „Guten Morgen, Schatz. Heute habe ich Eier und Bacon gemacht."

„Super, Mom! Ich liebe Eier und Bacon." Jessie war begeistert. Während ihre Mutter ihr das Essen servierte kam Jessie plötzlich ein Gedanke. „Moment mal, du machst mir normalerweise nur mein Lieblingsfrühstück wenn du ein schlechtes Gewissen hast..."

„Ich weiß nicht was du meinst, Schatz." Heather setzte sich nun ebenfalls mit ihrem Teller an den Küchentisch und nippte an ihrem Kaffee.

Jessie sah sie argwöhnisch mit zusammengezogenen Augenbrauen an. „Oh doch, das weißt du ganz genau, Mom." Plötzlich durchlief Jessie ein Kälteschauer. „Wir werden doch nicht etwa schon wieder umziehen?"

Bevor ihre Mutter darauf reagieren konnte platzte es aus Jessie heraus. „Das kannst du nicht machen! Ich stehe kurz vorm Abschluss, Mom!"

Heather legte beruhigend eine Hand auf die ihrer Tochter. „Ganz ruhig Jessie. Wir werden nicht umziehen, zumindest nicht jetzt gleich. Es gibt ein Angebot ja, aber noch ohne ein genaues Datum."

Jessie war wie betäubt. „Aber wir werden wieder umziehen..."

Heather seufzte. „Ich weiß, dass du diese Umzüge hasst, aber das gehört nun einmal zu meinem Job..." „Das heißt aber noch lange nicht, dass ich da immer mitziehen muss. Mom, mir geht es hier richtig gut! Ich habe hier Freunde, richtige Freunde!", warf Jessie leidenschaftlich ein.

Heather seufzte noch einmal. Sie hatten diese Diskussion schon allzu oft geführt. „Lass uns nicht streiten, Liebes. Du solltest dich jetzt voll und ganz auf deinen Abschluss konzentrieren; dann sehen wir weiter."

Jessie rang mit sich. Am liebsten wäre sie wutentbrannt aufgesprungen und hätte ihre Mutter angeschrien, aber sie hielt sich zurück. Sie wollte sich diesen schönen Tag nicht verderben lassen; erst recht nicht nach der letzten Nacht mit ihrem Alptraum, der hatte weiß Gott schon gereicht. Sie versuchte das Thema zu wechseln.

„Ich wollte heute mit den Mädels shoppen gehen. Es kann also später werden."

Heather schien merklich erleichtert. „Das ist schön, Liebes. Wisst ihr schon wo ihr hingeht?"

„Ja, wir wollen uns diesen einen Laden in der Jackson Road ansehen. Du weißt schon, der Laden in dem Kate seit Kurzem nebenher jobbt. Sie bekommt dort als Angestellte Rabatt den sie an uns weitergeben kann."

„Das klingt nach einer guten Idee. Such dir ein paar hübsche Sachen aus und du weißt ja: über den Preis musst du dir keine Gedanken machen."

„Danke, Mom..." Jessie widmete sich wieder ihrem Frühstück; sie wollte sich jetzt auf gar keinen Fall weiter Gedanken über das Thema Umziehen machen; dennoch hatte ihr Essen einen fahlen Beigeschmack.

Heather bedachte ihre Tochter mit einem liebevollen Lächeln. Sie nahm noch einen Schluck von ihrem Kaffee, stand auf und strich dabei durch Jessies Haare. „Mom!", beklagte sich Jessie. „Ich bin doch kein kleines Kind mehr!" Heather beugte sich zu ihrer Tochter hinunter und hauchte ihr einen Kuss aufs Haar. „Für mich wirst du immer meine kleine Tochter sein." Jessie verdrehte zwar die Augen, aber ein Lächeln strafte diese Geste Lügen. Sie mochten zwar nicht immer der gleichen Meinung sein, aber das Verhältnis zwischen Jessie und ihrer Mutter war sehr gut; sie waren ein eingeschworenes Team.

Jessie blickte auf die Uhr. Es war Zeit zu gehen. Sie trank noch den letzten Schluck von ihrem Kaffee, dann verließ sie mit einem „Mom, ich bin dann mal weg." die Küche.

Heather blickte ihrer Tochter mit einem sorgenvollen Blick hinterher. Jessie hatte zwar nichts gesagt, aber sie hatte ihre dunklen Augenränder trotz des Make-ups erkennen können. Früher oder später würde sie mit Jessie reden müssen. Seufzend machte auch Heather sich fertig; die Arbeit rief.

***

Hoch oben, auf dem Dach eines der wenigen Hochhäuser die Ferryspring aufwarten konnte, stand ein Mann der seinen Blick über die Stadt schweifen ließ. Er war groß und trug schwarze, eng anliegende Kleidung die seinen muskulösen Körperbau betont in Szene setzte. Sein Handy begann zu klingeln und ohne den Blick von der Stadt zu wenden, aktivierte er das Headset an seinem Ohr.

„Ja? ... Bin auf dem Weg."

Er beendete das Gespräch. Ein Lächeln umspielte seine Lippen. Endlich! Für einen kurzen Moment noch ruhte sein Blick weiterhin auf der Stadt unter ihm, dann drehte er sich um und ging. Er hatte einen Auftrag zu erledigen und er konnte es kaum erwarten ihn auszuführen; das würde ein Riesenspaß werden.

Zur gleichen Zeit deaktivierte Janus die Freisprechfunktion an der Konsole vor ihm. Sein Blick wanderte zu dem großen Display vor ihm, der noch immer einen Blick in die Tiefen eines Ozeans gewährte. So nah davor schienen seine Augen geradezu in einem silbrigen Blau zu glühen. Ein großer Hai schwamm gemächlich vor Janus Blick dahin. Eine Hand lässig in der Hosentasche, nahm er einen tiefen Zug aus seiner Zigarette. Nach vielen Jahren der Vorbereitungen und des Wartens, kam er endlich einen wichtigen Schritt auf dem Weg zu seinem Ziel näher. Er konnte die nahende Veränderung bereits spüren.

***

Gen-X: OuroborosWo Geschichten leben. Entdecke jetzt