Die vierte Zigarette

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Alice erklärte ihrer Mutter grad, dass sie mit mir an unserer Religionsarbeit arbeiten wollte. Dies war natürlich eine Lüge, aber ich war unendlich froh, dass sie das für mich tat.
„Ja, sie ist ein braves Mädchen. Nein, sie trinkt nicht. Ja, ich werde auf mich aufpassen. Gut, Danke Mum! Tschüss!", hörte ich Alice am anderen Ende der Leitung sagen.

20 Minuten später standen wir beide neben dem alten Brunnen in der Innenstadt.
„Ich kam, so schnell ich konnte. Ich hoffe, du musstest nicht all zu lange warten. Du weisst ja, wie es ist, wenn man in einem Dorf wohnt. Die Busse kommen eben recht selten", erklärte mir Alice wild gestikulierend.
„Danke", erwiderte ich nur.
Ich war nie die Meisterin der Worte gewesen.

Wir gingen in ein kleines Café, wo ich mir nur ein Wasser kaufte, da ich nur dafür genug Geld dabei hatte. Alice kaufte sich einen hausgemachten Eistee, von dem ich auch ein paar Schluck abbekam.

Im Radio, welches aus den zwei grossen Boxen, die neben der Theke platziert waren, lief irgendein Retro Sender. Ich muss zugeben, dass ich mich bei alten Songs nur mit Rock auskannte. Zu meinem Glück lief grad I don't wanna miss a thing von Aerosmith. Glück, weil ich endlich ein Lied kannte. Alice fing plötzlich an, mit einer unglaublich schiefen Stimme, mitzusingen.

I don't wanna close my eyes
I don't wanna fall asleep...

Ich musste lachen und dachte mir, dass sie sich nicht alleine blamieren kann, weshalb ich einstimmte. Nun sangen wir beide.

'Cause I miss you babe
And I don't wanna miss a thing
Even when I dream of you
The sweetest dreams will never do
...

Natürlich applaudierten am Schluss nicht alle, wie in den Filmen. Dafür ernteten wir ein paar
böse Blicke von älteren Menschen. Interessiert hat uns das nicht wirklich. Alte Leute scheinen oft, als ob sie vergessen hätten, wie es ist jung zu sein.

„Wohin jetzt?", fragte mich Alice.
„Ich weiss auch nicht. Ich kenne einen etwas abgelegenen Ort. Ist nicht weit weg von hier", kam es von mir.

Wir liessen uns Zeit beim Gehen. Schliesslich mussten wir nicht pressieren. Wir bogen neben der Hauptstrasse, in eine Nebengasse ein, liefen noch ein Stück und bogen nochmals ab. Nun befanden wir uns in einer ruhigen Gasse mit insgesamt drei Wohnblöcken. Sie sind in einer U-Form gebaut worden, weshalb man in den Innenhof spazieren konnte. Hier lebten kaum andere Leute, als etwas ärmere Familien. Die grauen Wände waren voller Graffiti.

„Hier wohnen schon keine Dealer oder so?", fragte mich Alice etwas beängstigt.
„Nein, nur ein paar ärmere Familien mit kleinen Kindern", beruhigte ich sie.

Schweigend sassen wir eine Weile auf dem kalten Boden und lauschten den schreienden Babys und Müttern, die ihre Kinder beruhigen wollten.

„Was jetzt?", fragte mich Alice und schaute mich erwartungsvoll mit ihren grossen blauen Augen an.
„Ich weiss nicht", gab ich ehrlich zu, „ich möchte auf keinen Fall nach Hause gehen. Vielleicht penne ich einfach hier oder so."
„Ich bleibe da mit dir", sagte sie fest entschlossen.
„Alice, das ist echt mega lieb von dir, aber ich will nicht, dass du wegen mir in Schwierigkeiten gerätst. Ich schaff das auch alleine", sagte ich. Ich wollte echt nicht, dass sie Probleme wegen mir bekommt.
„Also jetzt hör mal: Ich bin 15 und habe bisher mein ganzes Leben so verbracht, dass ich in jeder Sekunde brav war. Das, was vorgestern passiert ist, war das aufregendste, was ich je getan habe. Ich möchte auch mal mein Leben leben, weisst du?", platzte es plötzlich aus ihr raus.

Ob, ich das weiss? Natürlich, weiss ich das.
Ich grinste sie an und sagte schliesslich:„Wir brauchen einen Platz zum schlafen."

Die nächsten 45 Minuten verbrachten wir, damit, dass wir uns einen geeigneten Schlafplatz finden. Wir entschieden uns schliesslich dafür, dass wir es uns oben am Hügel bequem machen werden. Es ist nicht weit oben und hat eine schöne Wiese.

Das ist eines der verrücktesten Sachen, welche ich je getan habe (das andere war, als ich die Zigarettenschachtel geklaut habe).

Wir setzten uns ins Gras und ich zog eine Zigarette hervor und zündete sie an. Als ich zum zweiten mal dran gezogen hab, fragte mich Alice vorsichtig: „Darf ich auch mal?"
Ich nickte und gab ihr die Zigarette. Diesmal hustete sie nicht, was mich leicht überraschte, weil ich beim zweiten mal noch gehustet habe.
So rauchten wir die Zigarette wieder gemeinsam.

„Alice, sag mal, hast du dein Handy ausgeschaltet?", fragte ich sie und blickte sie fragend an.
„Ja, natürlich. Schon als wir bei den Blöcken waren."

Ich war beruhigt, denn sonst hätten sie ihre Eltern vielleicht orten können. Mein Handy hab ich auch schon ausgeschaltet, genau aus dem Grund.

Ein Weilchen sassen wir noch da und sahen zu, wie die Sterne auf dem Himmelszelt erschienen. Ich liebte die Sterne schon immer und beobachtete sie gern von meinem Fenster. Das hier, war aber ganz anders, denn ich fühlte mich nahe zu den Sternen.

Wenn mein Zeitgefühl nicht täuschte, schliefen wir beide gegen vier Uhr morgens ein.

Die erste Zigarettenschachtel Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt