Die sechste Zigarette

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Ich sass in meinem Zimmer und heulte. Am liebsten hätte ich jetzt Alice angerufen, aber mein Handy hatte ich ja nicht mehr. Den haben sie mir auch genommen und ausserdem meine ganze Freiheit, mein ganzes Leben. Ab morgen würde mich mein Vater jeden Tag zur Schule fahren, am Mittag holt mich dann meine Mutter ab, am Nachmittag begleitet sie mich zurück und am nach Schulschluss holt sie mich wieder ab. Das alles, nur damit ich nicht wieder abhaue. Ich habe zusätzlich noch Hausarrest bis Oktober bekommen (es ist Mai, also dauert es noch ein Weilchen bis Oktober). Ach ja, Taschengeld bekomme ich jetzt bis August auch nicht. Eigentlich waren das gar nicht, die Sachen, weshalb ich weinte. Das, was meine Mutter nachher zu meinem Vater gesagt hat, werde ich ihr aber nie verzeihen.

Ich hätte mir eine bessere Tochter gewünscht.
Ich möchte nicht mehr ihre Mutter sein.
Sie ist eine Schande.
Sie ist nicht mehr meine Tochter.

Vielleicht dachte sie, ich hätte sie nicht mehr gehört. Vielleicht, liess es sie auch ganz einfach kalt, ob ich es gehört habe oder nicht. Ich dachte, Gott möchte, dass wir unsere Fehler einander verzeihen. Gut, ich kann ihr auch nicht verzeihen, was sie gesagt hat.
Ich weinte mich anschliessend in den Schlaf.

Am nächsten Morgen, fuhr mich mein Vater zur Schule. Den ganzen Morgen lang, sprach ich kein einziges Wort mit meinen Eltern.
Als ich aus dem Auto stieg, rannte ich so schnell ich konnte in Richtung Schule. Ich wollte Alice suchen und möglichst weit weg von meinem Vater kommen.

„Alice", brachte ich heraus, als ich sie sah. Ich umarmte sie und fing an, laut zu schluchzen.
„Hey, lief es denn so schlimm?", stellte sie eine Frage, auf der sie gar keine Antwort erwartete. Sie drückte mich ganz fest an sich und versuchte mich zu beruhigen.
„Sie sagte, dass ich nicht mehr ihre Tochter sei", brachte ich unter meinen Tränen heraus.
„Deine Mutter?" Alice starrte mich fassungslos an. Ich nickte.
„Oh Gott, das tut mir so leid für dich", sagte sie. Mein Schluchzen liess allmählich nach.
„Ich muss weg. Jetzt", versuchte ich so entschlossen, wie möglich zu klingen.
„Das kannst du nicht. Wohin auch? Meine Mutter hat natürlich mit mir geschimpft, aber sie hat mir gesagt, dass sie jetzt möchte, dass ich ihr immer die Wahrheit sage und ihr immer davon berichte, wo ich mich grad aufhalten würde. Dann habe ich ihr ein wenig davon erzählt, wie wenig gut es dir zu Hause geht. Meine Mutter hatte sofort Mitleid mit dir und hat mir gesagt, dass du immer zu uns kommen kannst, wenn du wieder mal Probleme hast. Für meine Mutter, ist es eben sehr wichtig, dass sie anderen Menschen helfen kann", berichtete mir Alice.
„Das ist echt nett, aber ich kann das Angebot nicht annehmen. Es ist viel zu viel. Ich kann das nicht", lehnte ich ab. Wie viel lieber, mir jetzt grad Alice's Mutter wäre, als meine. Ich liebte meine Mutter trotz allem, immer noch.
„Du musst. Ich bin mir sicher, wir werden zusammen mit meiner Mum eine Lösung finden. Einverstanden?" Sie schaute mich erwartungsvoll an. Ich hätte ihr wohl nicht "Nein" sagen können, also sagte ich: „Ja, danke".

In der Pause machten wir uns aus dem Staub und rannten zu der Bushaltestelle, wo wir auf den Bus warteten, mit dem wir uns zu Alice verpissten.

Das Ganze war mir recht unangenehm. Ich mochte es nicht, wenn mir Leute einen Gefallen taten. Ich lehnte mich an die Fensterscheibe und starrte nach draussen.
Alice hatte wohl meine Abwesenheit bemerkt und meinte: „Es ist wirklich kein Problem für meine Mutter. Echt".

Beruhigen konnte mich dies leider nicht wirklich. Als wir ausstiegen, zündete ich mir schnell eine Zigarette an und rauchte sie. Ich stand einfach da und rauchte. Alice war ganz still, sie wusste, dass ich das brauchte. Ich habe ihr erzählt, dass mich das Rauchen immer beruhigen würde. Sie meinte nur, dass sie ja nicht will, dass ich abhängig werde.

„Guten Tag, Frau Meyer. Ich weiss echt nicht, wie ich mich dafür bedanken könnte, dass ich hier sein darf", sagte ich und versuchte dabei möglichst höflich zu klingen.
Alice's Mutter schenkte mir ein Lächeln und fing an zu sprechen: „Hallo! Alice hat mir ein wenig von dir erzählt. Es tut mir leid, dass du dich mit deinen Eltern nicht so gut verträgst. Du darfst bleiben, so lange du willst. Ich würde gerne mal mit deinen Eltern reden. Mir wäre es am liebsten, wenn du schon heute nach Hause gehen würdest, damit du nicht noch mehr Ärger bekommst. Ich würde dich in dem Fall begleiten und hätte dann auch eine sofortige Gelegenheit, mit deinen Eltern mal in Ruhe zu reden".

Ich war sprachlos. Wie nett konnte man bitte schön sein? Sie kannte mich nicht mal.
„Danke. Ich denke, ich werde das so machen", lächelte ich sie an.

Alice und ich verschwanden in ihrem Zimmer.
„Weisst du, meine Mum arbeitet bei einer Beratungsstelle für Jugendliche. Deshalb beschäftigt sie sich sehr viel mit Teenagern und weiss halt in solchen Situationen immer, was zu tun ist. Manchmal wünschte ich mir, sie würde sich genau so viel mit mir beschäftigen, wie sie es mit den Jugendlichen an ihrem Arbeitsplatz tut", erzählte mir Alice.

Ich drückte sie ganz fest. Die richtigen Worte hätte ich nicht gefunden. Als ich sie ansah, sah ich, dass sich Tränen in ihren Augen gesammelt hatten. Ich wollte nicht, dass sie weint, also sagte ich: „Hey, nicht weinen"
„Okay", brachte sie heraus und wischte ihre Tränen weg.

Um Punkt 14:55 stiegen Alice's Mutter und ich in ihr Auto und fuhren zu mir nach Hause.
„Wieso warst du heute nicht in der Schule. Du kleine...", sie verstummte, als sie sah, dass ich nicht alleine war.

Die erste Zigarettenschachtel Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt