Ein von Wald umgebener Highway während eines Schneesturms auf der Strecke nach Perth, Pennsylvania, in der Nacht vom 4. auf den 5. November 1984
Der Schneesturm war noch schlimmer geworden und ein einsamer silberner Ford Fiesta schlängelte sich wacker den von hohen Bäumen umgebenen Highway entlang. Linda sehnte sich mittlerweile nach der Zeit vor einer Stunde, als man noch gut fünf Meter weit hatte sehen können, das war ein Luxus gewesen.
Das Wetter und die nicht enden wollende Autofahrt ermüdete sie, genau wie die Tatsache, dass die einzige Kassette, die sie dabei hatten schon zum siebten Mal von vorne begonnen hatte. Trotzdem erkannte sie Another One Bites the Dust nicht direkt.
„Können wir nicht mal etwas anderes hören?"
Christian sah genervt zu ihr rüber und deutete gespielt vorwurfsvoll auf die Türe: „Verlasse sofort mein Auto."
Sie lachte und schaltete trotz Protest und bösen Blicken von Seiten ihres Verlobten auf das Radio um.
Es gab ein Limit, wie oft man die selbe Queen Kassette hören konnte, und dieses Limit war erreicht.
Sie hätte gedacht, dass es auch ein Limit gebe, wie viel weiße Flocken auf einmal vom Himmel fallen konnten, aber irgendwie wirkte es im Moment nicht so.
„Noch 50 Meilen", murmelte sie, als ein Schild wie aus dem Nichts am Straßenrand auftauchte und sie über die Distanz informierte, die sie noch von ihrem Heimatort entfernt war.
Es wäre der erste Besuch bei ihrer Familie, seit sie mit Christian verlobt war. Er hatte sich schick gemacht, trug ein hellblaues Hemd mit Hosenträgern, eine dunkle Anzughose, den anthrazitfarbenen Kaschmirschal, den sie ihm zum Geburtstag geschenkt hatte (ein wenig unpassend für den 29. Mai - Christian war Stier) und elegante Schuhe aus dunkelbraunem Wildleder, mit denen sie niemals so lange hätte fahren wollen.
Und der Weg aus San Francisco war sehr lang.
Es war außerdem der erste Besuch bei ihrer Familie, seit sie herausgefunden hatte, dass sie schwanger war (oder auch der erste Besuch bei irgendjemandem seit sie herausgefunden hatte, dass sie schwanger war, da sie es erst vor zwei Tagen herausgefunden hatte).Ihr Leben in San Francisco war angenehm. Sie hatte eigentlich keine Gründe, sich zu beschweren. Sie lebte mit Christian zusammen in einem Apartment mit einem wundervollen Blick auf die Golden Gate Bridge, es war die Art von Apartment, in dem eine der Hauptpersonen in einer romantischen Komödie lebte, wo man sich als Zuschauer immer fragte, wie sie es eigentlich bezahlte, in so einem tollen Apartment zu leben. Diese Frage stellte man sich bei Christian und Linda nicht und das hier ist keine romantische Komödie (wobei es natürlich auf die Perspektive ankommt, was man unter Romantik oder Komödien versteht).
Lindas Eltern waren reich. Sie waren so reich, dass man sie in ganz Perth, Pennsylvania kannte und so reich, dass sie Linda ein Apartment mit Blick auf die Golden Gate Bridge bezahlten, in welches das weiche Nachmittagssonnenlicht immer genau richtig hineinstrahlte.
Christian war nicht reich. Oh, er wäre es gerne irgendwann, er würde Linda gerne etwas bieten, aber diese Gelegenheit würde er (Spoiler) nicht mehr bekommen.
Oh, Christian war auch nicht arm. Er konnte sich einen schicken silbernen Ford Fiesta leisten, der nur eine einzige kleine Delle hinten links hatte (und die fiel beim oberflächlichen Betrachten auch nicht auf), er konnte sich schicke braune Wildleder Stiefeletten leisten und er konnte es sich leisten, Linda einmal die Woche bei dem schicken Italiener auf der Ecke zum Essen einzuladen. Er hatte sich auch den goldenen Diamantring leisten können, mit dem er Linda in eben diesem Restaurant nach 1 1/2 Jahren Beziehung einen Antrag gemacht hatte.
Diese Tatsachen rührten daher, dass er fünf seiner sieben Wochentage in einem stickigen Bürogebäude verbrachte, in dem man die Fenster nur einen dünnen Spalt breit öffnen konnte, die Vorhänge aus diesen vertikalen Stoffstreifen bestanden, und das Sonnenlicht ihn ab 13:30 immer genau falsch blendete.
Er hatte keine großen Beschwerden über seinen Job, und falls er sie doch hatte, behielt er sie für sich.
Natürlich, er wäre lieber Dozent für Literatur an einer renommierten Universität geworden; er hätte lieber die eloquente Wortwahl, mit der er gesegnet war, in Romane fließen lassen, anstatt in eintönige Sachtexte, aber so war es nicht gekommen und das war in Ordnung. Er hatte nichts dagegen, fünf seiner sieben Wochentage in dem stickigen Bürogebäude zu verbringen, in welches das Sonnenlicht immer genau falsch einfiel, mit der Gummipalme - also eine echte Palme, von der Art Gummipalme - die so vertrocknet war, dass ihr Anblick einen immer ein wenig deprimierter werden ließ als vorher, aber die nicht so vertrocknet war, dass sie bereits braun war und man die Hoffnung aufgegeben hatte.
Natürlich, nach acht Stunden in seinem rauchblauen Stuhl mit den hölzernen Armlehnen konnten sich schonmal Rückenschmerzen bemerkbar machen, aber auch das war etwas, was Christian akzeptiert hatte.
Denn es gab Lichtblicke in seinem Tag, und diese waren metaphorische Lichtblicke und nicht das Sonnenlicht, das genau falsch durch die weißen Stoffstreifenvorhänge einfiel.
Ein großer Teil dieser Lichtblicke trug den Namen Tricia.
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Haken Hand Howard
HorrorLinda und Christian, frisch verlobt, wollten eigentlich nur über Thanksgiving Lindas Verwandte in Perth, Pennsylvania besuchen. Sie werden jedoch von einem Schneesturm überrascht, haben einen Autounfall und das ausgeregnet kurz nachdem sie einen Rad...