Man

5 1 7
                                    

Linda und Christian hatten Perth, Pennsylvania noch immer nicht erreicht. Der Schneesturm war nicht mehr schlimmer geworden, aber da er bereits so schlimm gewesen war, dass man mehr oder weniger gar nichts sehen konnte, war dies kein besonderer Trost.
Linda hatte Angst, dass sie sich verfahren könnten.
„Es ist nur dieser eine Highway, auf dem wir noch für bestimmt 30 Meilen bleiben müssen, Schatz", erklärte Christian.
Seine Verlobte war nicht überzeugt. Immerhin hatten sie sich vor eineinhalb Stunden schon einmal verfahren, was sie genau 12 Minuten gekostet hatte. 12 Minuten waren nicht die Welt, es war keine sonderlich große Verspätung. 12 Minuten waren drei Songs auf der Queen Kassette, mehr nicht. Aber oh, diese eine falsche Ausfahrt. Oh, diese 12 Minuten.
Wenn sie 12 Minuten früher genau diese bestimmte Stelle des von Wald umgebenen Highways 30 Meilen von Perth, Pennsylvania entlang gefahren wären, wäre die Wahrscheinlichkeit hoch gewesen, dass sie eine weitere Stunde später den Ort erreicht hätten, genervt aber unbeschadet, und dort eine angespannte, größtenteils unangenehme Zeit bis Thanksgiving mit Lindas Verwandten verbracht hätten. Wenn man ihnen im Voraus erzählt hätte, wie anstrengend der Besuch dort gewesen wäre, voller unausgesprochener Wahrheiten und Zweifel und krampfiger Konversation, vielleicht wären sie froh gewesen, dass es nie dazu gekommen war.
Vermutlich allerdings nicht. Denn der Grund, warum es nie zu dem Besuch der beiden in Perth, Pennsylvania kam, war folgender:
Ein Reh kam aus dem Schnee und lief auf den Highway.
Das Reh kam tatsächlich bis auf einen gehörigen Schock unbeschadet davon, da Christian schnell reagierte und genau das tat, was einem in der Fahrschule immer gesagt wurde, dass man nicht tun sollte: Er wich aus.

Wenn Linda den Zug genommen hätte, dessen Tickets sich in ihrer Tasche befanden, hätte sie Perth, Pennsylvania erreicht. Mit sieben Stunden Verspätung, wohlgemerkt, und einer starken Erkältung (vom an kalten Bahnsteigen warten), denn der Zug, den sie gebucht hatte, stoppte aufgrund des vielen Schnees auf halber Strecke. Alle Passagiere mussten aussteigen, eine Stunde warten, bis ein Bus organisiert wurde, der sie endlos langsam mit Müh und Not zu ihrem Ziel brachte. Es wäre eine furchtbare Reise gewesen. Wenn man Linda im Voraus von den Strapazen erzählt hätte, die die Zug- und unfreiwillige Busfahrt mit sich gebracht hätte, wäre sie sehr froh darüber gewesen, zugestimmt zu haben, mit Christians silbernem Ford Fiesta gefahren zu sein - jedenfalls in jedem Moment bis zu dem, in dem das Reh 30 Meilen vor Perth, Pennsylvania auf die Straße lief.

Der Highway war von hohen, dichten Bäumen umgeben, und auch wenn der Schneesturm ihre Konturen verschwimmen ließ, so war doch klar, dass sie da waren.
Noch klarer wurde Christian und Linda die Präsenz der Bäume gemacht, als sie, dem Reh ausweichend, direkt gegen einen fuhren.
Der silberne Ford Fiesta, bis zu diesem Zeitpunkt in einem so makellosen Zustand gehalten (wenn man von der kleinen Delle hinten links absah), wurde vorne zusammengepresst wie eine leere Coladose. Totalschaden.
Linda verarbeitete das Geschehen früher und realisierte, dass ihr nichts schlimmeres passiert zu sein schien als ein schmerzendes rechtes Handgelenk und das obligatorische Marissa Cooper Style Blut an der Schläfe. Beides würde nicht für allzu lange Zeit ein Problem bleiben.
Auch Christian ging es soweit gut, jedenfalls körperlich. Psychisch - naja...
„MEIN AUTO!" Er starrte mit glasigen Augen durch die zerbrochene Windschutzscheibe, deren Optik nun einem Spinnennetz glich.
„SIEBEN JAHRE!" Er vergrub das Gesicht in seinen Händen.
„NICHT EIN KRATZER!" Er schlug aufgelöst auf das Lenkrad und rieb dann sachte darüber, wie als Entschuldigung.
„Geht es dir denn ansonsten gut?", fragte Linda vorsichtig, „Wir hatten extrem viel Glück, dass es nur das Auto ist und uns nichts schlimmeres passiert ist."
„NUR DAS AUTO", Christian trat die Tür auf und stolperte nach draußen, um die ganze Katastrophe zu überblicken, was dazu führte, dass er begann zu wimmern. „Oh, Gott!"
Linda verdrehte die Augen und stieg ebenfalls aus. Das Auto war tatsächlich im Eimer, aber ihr ging diese Tatsache nicht halb so nahe wie Christian und sie war eher froh darüber, dass es mit ihr nicht so geendet hatte wie mit Albert Camus.
„Die nächste Notrufsäule kann ja nicht soweit sein", erzählte sie sachlich, „Die gibt es doch alle paar hundert Meter."
Christian stieß einen Seufzer aus, der so tief war, dass der Mariannengraben dagegen als Kuhle bezeichnet werden konnte, wenn man Seegräben mit Seufzern verglich.
„In Ordnung" Wehmütig sah er ein weiteres Mal auf das Autowrack, „Ich werde mich auf den Weg machen."
Linda stapfte ebenfalls durch den Schnee, auf seine Seite des Autos. „Ich komme mit!"
„Nein", Christian winkte ab, da immer noch ein winziger Funken seines Egos übrig geblieben war, und er weiterhin den Kavalier spielen wollte. Vielleicht legte er sich auch extra ins Zeug, da er verdrängen wollte, dass nicht alle seiner romantischen Gedanken Linda galten, aber dies ist eine Spekulation, deren Wahrheitsgehalt wir (Spoiler) nie erfahren werden.
„Ich schaff das alleine. Geh du lieber zurück ins warme Auto, nicht, dass du dir noch eine Lungenentzündung holst."
Linda war skeptisch. „Fühlst du dich wirklich in der Verfassung dazu? Du wirkst ein wenig... durch den Wind."
Apropos Wind; an dieser Stelle sollte man erwähnen, dass dieser eisig wie eh und je war, und der Schneesturm keinesfalls besser geworden war (im Gegenteil, so ohne die Illusion von Sichtweite, die die Scheinwerfer und Scheibenwischer des Fords geleistet hatten, wirkte es, als sei der Sturm noch schlimmer geworden. Außerdem gab es nun nicht mehr die Autoheizung).
„Natürlich bin ich mir sicher!", blaffte Christian sie an, „Geh wieder zurück ins Auto, da ist es wenigstens geringfügig wärmer."
Linda legte die Stirn in Falten, aber sah schließlich ein, dass es nichts brachte, wenn sie mit ihm die Tortur des Weges zur Notrufsäule antrat. Immerhin würde sie Christian ja auch nicht gerade auf Operation Barbarossa begleiten, Solidarität hin oder her, wenn man die Wahl zwischen trostloser, eisiger Kälte und nicht ganz so trostloser, eisiger Kälte hatte, war die Entscheidung ja völlig klar. Außerdem fiel ihr siedend heiß (ironischerweise) der Radiobericht wieder ein, den sie seit dem sie ihn gehört hatte bis zu diesem Zeitpunkt mit mittelmäßigem Erfolg in die hinterste Ecke ihres Gehirns verbannt hatte. „Warte! Was ist mit Haken Hand Howard, diesem Axtmörder!"
„Noch ein Grund, wieso ich alleine gehen werde. Er ermordet ja nur Pärchen, also sind wir einzeln völlig sicher", behauptete Christian zuversichtlich.
Linda ließ sich dies kurz durch den Kopf gehen und kam dann zu dem Schluss, dass sie das Auto ja immerhin von innen abschließen konnte, aber unter völlig sicher stellte sie sich auch etwas anderes vor. Dennoch leuchtete ein, dass es die beste Idee war, wenn Christian sich heldenhaft allein auf den Weg zur Notrufsäule machen würde, und sie im Auto wartete.
„In Ordnung", sie stieg auf der Fahrerseite ein, „Aber sei vorsichtig."
„Bin ich doch immer", er lächelte ihr zu, „In 10 Minuten bin ich bei der Notrufsäule, also kannst du in 20 Minuten wieder mit mir rechnen."
Er beugte sich für einen kurzen Abschiedskuss zu ihr herunter und das letzte was sie von ihm sah waren seine straßenköterblonden Haare, die vom Wind und Regen unordentlich und dunkel wirkten, und sein weiter dunkler Mantel; bald nur noch eine Silhouette im Schneechaos. Das letzte, was sie von ihm hörte war das Knirschen seiner braunen Wildleder Stiefeletten im knöchelhohen Schnee.

Haken Hand Howard Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt