Hand

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Linda blinzelte. Über ihr war immer noch die graue Wolkendecke, aus der es mittlerweile immer weniger stark schneite. Neben ihr war der Wald, die Straße, Howard, die Axt... Der Schmerz in ihrem rechten Handgelenk fiel ihr erst nach ein paar Sekunden auf, und danach brauchte es noch ein paar Sekunden mehr um zu realisieren, dass Haken Hand Howard mit dem Preis, den sie bezahlen würde keinesfalls ihr Leben gemeint hatte. Nein, er hatte von ihrer rechten Hand gesprochen.
„Ich bin kein Monster, weißt du, Linda" Seine Stimme war weich wie Softeis, „Aber du hast mein Vertrauen schon einmal missbraucht, daher musste es Konsequenzen geben." Auf seiner Jacke waren ein paar rote Spritzer gelandet, die dazu führten, dass Linda auf ihren Mageninhalt aufpassen musste.
Sie nickte schwach und fühlte sich wieder an den Ort versetzt, der völlig weiß eingeschneit und weit weg von der Realität war.
Kein einziger ihrer Gedanken war klar und deutlich, also konnte sie nichts tun als anhören, was Haken Hand Howard noch zu sagen hatte.
„Ich möchte dich wirklich nicht umbringen, denn ich mag dich, Linda. Ich erkenne mich selbst in dir wieder. Und ich möchte, dass du auch lernst, mich zu mögen."
Sie spürte einen Lachanfall wie einen Tsunami auf sie zurollen, da ihr in ihrem Zustand keine andere Reaktion auf seine absurden Erklärungen gelang, aber sie verwendete alle ihre Energie darauf, das Lachen zu unterdrücken.
Stattdessen nickte sie erneut und ließ sich dieses Mal auch von ihm hoch helfen, da sie die Kraft, gegen diese Kleinigkeit zu protestieren nicht in sich fand.
Ihr war schwindlig.
„Ich werde dich nicht verbluten lassen, keine Sorge", versicherte Haken Hand Howard ihr, dabei war ihr diese Möglichkeit des Todes noch gar nicht so präsent gewesen.
„Wir werden zu mir nach Hause gehen."
Expertenhaft wickelte er seine Jacke als Druckverband um ihr Handgelenk (man erinnert sich, er hat seinen ersten Doktortitel in Medizin) und griff dann ihren Ellenbogen, um sie hinter sich her in den Wald zu ziehen.
„Keine Sorge, es ist nicht weit."
Eine Kleinigkeit unter all den Kleinigkeiten, die Linda getan hatte und anders hätte tun können, die zu verheerenden Schmetterlingseffekten geführt hatten, wurde ihr nun klar und stimmte sie zugleich hoffnungsvoll und angsterfüllt: Sie hatte den Robert Frost Gedichtband in ihrer linken Manteltasche.

***

Tricias Wasserrohrbruch war nicht allzu lange nach Christian und Lindas Aufbruch nach Perth, Pennsylvania passiert. Tatsächlich hatte es kaum fünf Stunden gedauert, bis sich eine Reihe von Überlegungen in Tricias Gehirn soweit abgespielt hatten, dass sie die Entscheidung traf, Christian und Linda nach Perth, Pennsylvania hinterher zu fahren um sich den Zettel mit der Nummer des richtig guten Klempners zurück zu holen. Kaum sechs einhalb Stunden waren vergangen, bis sie in ihrem roten Sedan saß und losfuhr.
Aufgrund von Staus, Schneesturm und allerlei anderen kleinen Faktoren lagen letztendlich ganze elf Stunden zwischen dem Zeitpunkt, in dem das Reh vor Christian und Lindas Auto gelaufen war und dem Zeitpunkt, in dem Tricia an eben dieser Stelle vorbei fuhr und den Ford Fiesta mit Totalschaden an der Seite der Straße bemerkte.
Der Abschleppdienst war zwar vorbeigekommen, hatte jedoch niemanden vorgefunden, also war Larry, welcher den Abschleppwagen fuhr und noch mehr als genug anderes zu tun hatte, unverrichteter Dinge wieder gefahren. Aus diesem Grund hatte er Zeit, den liegengebliebenen VW in der Nähe von Meadville abzuschleppen, was sonst sein Kollege Fred getan hätte, wobei er Olivia kennenlernte, deren VW liegengeblieben war. Olivia war ihm sehr dankbar, da sie auf dem Weg zu einem wissenschaftlichen Kongress in New York gewesen war, und da Larry sie sehr hübsch und auch generell sympathisch fand und sie die gesamte Abschleppfahrt zusammen hatten, während derer sie einander kennenlernten und noch mehr als nur sympathisch fanden, bot Larry an, sie direkt bis nach New York zu begleiten.
Er verstand absolut nichts von Wissenschaft, aber Olivia war froh über das Angebot und letztendlich verbrachten sie ein gesamtes romantisches Wochenende zusammen in der Stadt. So war es ironisch, dass Harpunen Hand Howard der Haken Hand Axtmörder letztendlich durch seine Taten einer Person (Abschleppfahrer Larry) dazu verholfen hatte, seine wahre Liebe zu finden (Wir werden der Dramatik halber annehmen, dass es die wahre Liebe zwischen Larry und Olivia war, und den Schleier des „Nicht mehr näher mit beschäftigen" über sie und ihren restlichen romantischen Werdegang legen, denn niemand würde hören wollen, dass es mit ihnen nicht länger als zwei einhalb Jahre hielt).
Eine weitere Folge der Tatsache, dass Larry am silbernen Ford Fiesta unverrichteter Dinge vorbeigefahren war, war, dass Tricia diesen nun noch am Unfallort vorfand, jedoch genauso verlassen wie der Abschleppwagenfahrer. Haken Hand Howard hatte hinter sich aufgeräumt, nachdem er Linda bei sich zuhause abgesetzt und eingesperrt hatte, denn er war noch niemals einer dieser Serienkiller gewesen, die unbedingt wollten, dass die Polizei ihre Opfer vorfand; nein, man berichtete ja so oder so über ihn. Viel wichtiger erschien ihm nun die Möglichkeit, eine Partnerin bei alldem zu haben; eine Partnerin, die ebenfalls ihre wahre Liebe verloren hatte. Natürlich, momentan war sie der Idee noch abgeneigt, aber das würde sich fügen. Alles würde sich fügen.

Haken Hand Howard Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt