Door

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Ihre Gedanken überschlugen sich, aber gleichzeitig war ihr doch schon alles klar, was passierte, nur konnte es nicht zu ihr durchdringen. Ihr Gehirn fühlte sich an, als sei es ebenfalls durch eine Decke aus Schnee von der Welt isoliert.
Wie konnte es bloß ihr passieren? Der Axtmörder aus dem Radio, wie hatte er sich ausgerechnet sie und Christian aussuchen können?
Denn sie wusste, dass es Christian war, dessen Blut die Scheibe herunter rann.
Instinktiv griff sie nach dem Robert Frost Buch und ließ es in ihrer Manteltasche verschwinden, als könnte sie Christian damit noch irgendwie helfen, oder ihm wenigstens eine letzte Ehre erweisen. Vielleicht wollte sie auch einfach nur etwas bei sich haben, was sie an ihn erinnerte.
Immer noch war sie nicht fähig, eine größere Bewegung auszuführen, und was hätte sie auch machen können? Die Türe öffnen und wegrennen? Vor einem Wahnsinnigen mit einer Hakenhand und einer Axt? Tatsächlich war das genau was Linda tat, als besagte Axt die ohnehin schon eingeknackste Windschutzscheibe völlig zerbrach und ihr das Auto damit nicht mehr Schutz bot als eine Litfaßsäule vor Wind.
Sie sah nicht zurück, als sie aus dem zerstörten Ford hinausstürzte und in den Schneesturm lief, ohne einen einzigen Gedanken zu wagen, außer dem einen: Sie musste weg.

Sie lief schneller als sie es je für möglich gehalten hatte, ohne Ziel die Straße entlang, und auch wenn der Schnee nun ein bisschen weniger geworden war, so konnte sie doch noch immer kaum einen Meter weit sehen, was ein Vorteil war, denn ihr konnte es egal sein, wo sie hinrannte, aber Haken Hand Howard musste nach ihr suchen.
Jedoch nicht besonders lange, da sie nicht besonders weit kam: Nach kaum 50 Metern spürte sie einen stechenden Schmerz in ihrer rechten Schulter, der ihr den Atem zum Rennen direkt wieder nahm, und sie auf die Knie sinken ließ. Sie wusste nun, warum man den Mann hinter ihr Harpunen Hand Howard (den Haken Hand Axtmörder) nannte.
Kaum einen Augenblick später stand er direkt hinter ihr und hatte die Harpune wieder zu einer normalen Haken Hand eingefahren, was den Schmerz in ihrer Schulter allerdings nicht besser machte.
Dennoch besaß sie genug Geistesgegenwart, als dass sie sich an das dritte Attribut, was das Radio ihm zugeordnet hatte, erinnerte: Den Teil mit der Axt.
Jetzt ist es vorbei mit mir, ging es ihr durch den Kopf, er wird mir den Kopf abhacken und meine gesamte restliche Zeit auf dieser Erde wird sich auf noch nicht einmal eine Minute belaufen.
„Bitte", flüsterte sie, „Bitte warten Sie!"
Als keine Axt kurz darauf Kontakt mit ihrem Hals machte, wagte sie es, sich umzudrehen, und sah direkt in sein Gesicht über ihr.

Er sah ganz anders aus, als sie es sich vorgestellt hatte. Einerseits jünger (er schien nicht älter als Christian, und sie hatte irgendwie angenommen jemand, der schon mal aus dem Gefängnis ausgebrochen war, wäre älter. Vermutlich war er einfach bereits nach kurzer Zeit ausgebrochen). Außerdem besser (obwohl er einen Schnurrbart hatte, was absolut gar nichts für ihn tat. Er war zwar nicht eine der Personen, die völlig katastrophal mit Schnurrbart aussahen, aber auch nicht die Art von Mann, die so gut aussieht, dass sie sogar ein Schnurrbart nicht unattraktiv macht. Harpunen Hand Howard der Haken Hand Axtmörder hätte also definitiv ohne Schnurrbart noch besser ausgesehen, aber hässlich war er auch so nicht).
Er lächelte auf sie herab.
„Warum sollte ich dich nicht genau wie deinen Freund hier und jetzt töten?"
Seine Worte waren wie ein Schlag in die Magengrube. Bis jetzt hatte sie zwar bereits irgendwo gewusst, dass es unwahrscheinlich war, dass Christian noch lebte, aber jetzt, wo sie es so kalt und geradeheraus hörte, fühlte sie sich, als würde sie in einem abstürzenden Flugzeug sitzen.
„Ich bin schwanger!" war die erste Begründung, die ihr einfiel, und Haken Hand Howard schien an irgendetwas in ihrem Gesichtsausdruck oder Tonfall zu erkennen, dass sie nicht log.
„Wieso denkst du, würde mich das abhalten?"
Er wäre ein wirklich hübscher Mensch gewesen, wenn er lächelte, wenn seine dunkelbraunen (in dieser Dunkelheit schwarz wirkenden) Augen nicht kalt und glitzernd wie der Schnee gewesen wären.
„Es wäre einfach scheiße!" Linda durchsuchte ihr Gehirn fieberhaft nach besseren Argumenten, „So etwas macht man einfach nicht. Ich schätze Sie nicht als so einen großen Abschaum von Person ein, als dass Sie mich umbringen würden, obwohl ich ein Kind erwarte! Außerdem haben Sie sich doch bestimmt schon immer einen Erben gewünscht." Sie wusste nicht genau, woher dieser letzte Satz gekommen war und sie bereute ihn auch direkt nachdem sie ihn ausgesprochen hatte.
Denn Haken Hand Howards Grinsen wurde breiter.
„Du hast Mut, das muss man dir lassen." Er streckte ihr seine linke Hand hin, um ihr hoch zu helfen, woraufhin sie betont ohne seine Hilfe aufstand, indem sie sich auf ihre eigene linke Hand stützte.
Linda war es unangenehm, ihn anzusehen, aber zu ihrem Autowrack im Hintergrund wollte sie noch weniger gucken, da sie Christian nicht so sehen wollte. Sie unterdrückte den Impuls, ihre Hand zu dem Gedichtband in ihrer Manteltasche wandern zu lassen, da sie Haken Hand Howard nicht darauf aufmerksam machen wollte.
Dieser musterte sie. „Wie heißt du?", fragte er unvermittelt. Die Frage schien ihr so banal, so unnötig. Es war eine Frage, die man jemandem stellte, den man gerade auf einer Party kennengelernt hatte, und brachte Linda in der Absurdität der Situation fast zum Lachen.
„Wie ich heiße?", fragte sie ungläubig nach.
„Ja, wie du heißt. Wenn ich dich nicht töten soll, kannst du mir ja die Chance geben, dich kennenzulernen. Wer weiß, wie sich alles entwickelt." Er zwinkerte ihr zu und sie tat ihr bestes, ihren Ekel zu unterdrücken und ihre Gedanken klar auf einen Zweck zu fokussieren: Nicht zu sterben und abzuhauen.
„Linda", antwortete sie schließlich ruhig, „Ich heiße Linda."
„Linda, das spanische Wort für schön? Wie passend."
Sie sah auf die Straße hinter ihm und beschloss, sofort in den Wald zu laufen, wenn er für einen Moment abgelenkt wäre. Im Wald könnte er sie kaum erkennen, also war auch die Treffwahrscheinlichkeit seiner Harpune lange nicht so hoch wie auf offener Straße. Ihre rechte Schulter pochte noch immer und das Adrenalin, unter dem sie stand, war vermutlich das einzige, was verhinderte, dass sie den Schmerz noch weitaus stärker spürte.
„Weißt du, Linda, ich wollte immer die wahre Liebe finden..."
Fast hätte sie aufgestöhnt, aber stattdessen sah sie ihm direkt in die Augen.
„Die wahre Liebe?"
„Ja. Aber die Liebe hat mich enttäuscht. Die Liebe ist der Grund, warum ich das hier habe", er hielt seine Haken Hand direkt unter ihren Hals.
Sie schluckte trocken. Sie hatte keine Ahnung von der Hintergrundgeschichte, so wie wir sie haben, aber es interessierte sie auch nicht sonderlich, beziehungsweise lange nicht so sehr wie der Wunsch, dass er ein wenig mehr Distanz zwischen seine Haken Hand und ihre Halsschlagader brachte.
„Das... das tut mir leid?"
„Oh, dir muss es nicht leid tun, meine Schöne. Vielleicht gibt es ja doch noch einen Funken Hoffnung. Das Leben ist absurd, aber manchmal muss man eben einfach den Stein trotzdem immer wieder den Berg hoch rollen."
Man erinnert sich, dass Harpunen Hand Howard der Haken Hand Axtmörder einen seiner Doktortitel in Philosophie gemacht hat.
„Definitiv", Linda antwortete in einer sanften Stimme, „Und vielleicht findet man ja entgegen aller Erwartungen jemanden, der einem mit dem Stein hilft."
Sobald die Worte ihren Mund verlassen hatten, sprintete sie los in den Wald, rann abwechselnd in unvorhersehbare Richtungen, um seiner Harpune auszuweichen; flog fast schon über den verschneiten Boden, Haken Hand Howard erst knapp hinter ihr, dann weiter weg, bis sie ihn nicht mehr hinter sich wahrnahm, an einer anderen Stelle unbestimmt weit weg von ihm wieder auf die Straße rannte, und dort einen roten Sedan anhielt, der sie mit zur Perth Polizeistation nahm.
Oder das ist jedenfalls wie Linda sich ihren Plan vorgestellt hatte, jedoch kam sie nur bis zu dem Schritt, bei dem sie in Richtung Wald losrannte, denn auch wenn Haken Hand Howard gut eine Sekunde zum Reagieren brauchte, erreichte sie den Waldrand niemals, da sie auf Schnegen (also Schnee und Regen) auf dem Asphalt ausrutschte. Sie hatte den bedauerlichen Fehler gemacht, ihre eleganten schwarzen Stiefeletten mit Absatz bereits auf der Autofahrt anzuziehen. Ihr Rücken kam unangenehm mit der Fahrbahn in Berührung, und ein paar Sekunden lang befahl sie sich aufzustehen und weiter zu rennen, aber es gelang ihr nicht. Als ihre schiere Willenskraft endlich genug war, und sie wieder in ihren ziellosen Sprint ausbrechen wollte, stand Haken Hand Howard direkt vor ihr, sein Lächeln auf einmal nicht mehr gutaussehend sondern diabolisch und seine Augen schwarz wie verbrannte Kohle.
Ihr Glanz war stärker geworden.
Lindas Atem ging schnell, als würde ihr Körper diese Funktion noch einmal richtig ausnutzen, bevor sich ihre Lungen nie wieder mit Luft füllen würden.
„Hast du ihn geliebt?"
Haken Hand Howards Frage hatte ungefähr so einen langen Weg zu ihrem Bewusstsein, wie eine Schneeflocke zum Boden, da sie statt Worten bereits die Axt erwartet hätte.
„Christian?", fragte sie verwirrt.
„Ist mir doch egal, wie er hieß. Dein Freund, der losgegangen ist um den Abschleppdienst anzurufen. Hast du ihn geliebt?"
Linda ließ sich die irritierende Frage ein paar Sekunden lang durch den Kopf gehen, und überlegte, welche wohl die Antwort sein könnte, die Howard hören wollte.
Ja, doch, schon schien ihr, obwohl wahrheitsgemäß, irgendwie nicht dramatisch genug für die Situation.
„Ich habe ihn mehr geliebt, als Sie es sich jemals vorstellen könnten!", erklärte sie also leidenschaftlich.
Die Antwort schien ihm zu gefallen, aber nicht auf eine Art, die Linda gefiel. Hatte er schon die ganze Zeit die Axt in der linken Hand gehalten?
„Dann wirst auch du den Preis bezahlen, die die wahre Liebe verlangen kann!"
Linda war unangemessen stolz auf sich, dass sie die Augen nicht schloss. Nein, sie würde dem Tod herausfordernd ins Auge sehen, und auch wenn sie gerne noch irgendwelche bedeutenden letzten Worte geschrien hätte, so fielen ihr keine ein, und es hätte sie ja sowieso nur Howard gehört, bevor der Schnee sie für immer verschluckt hätte.
Sie würde die letzten 30 Sekunden Bewusstsein nicht mit Bedauern über ihr mehr oder weniger kurzes Leben oder ihr ungerechtes Ende verschwenden, nein, denn sie hatte die Gewissheit, alles in ihrer Macht stehende versucht zu haben, es zu verhindern und vielleicht gab es ja auch so etwas wie ein Leben nach dem Tod und auf sie wartete noch eine gesamte Ewigkeit, mit oder ohne Christian...
Howard holte aus und kaum zwei Sekunden später machte die Axt mit einem widerwärtigen Geräusch Kontakt mit dem Asphalt.

Haken Hand Howard Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt