1.Kapitel

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>>Kira Dolin, weißt du was? Mir fehlen die Worte!<<

Ich verdrehte die Augen und gähnte ausgiebig. >>Warum denn nun schon wieder?<<, fragte ich und warf einen sehnsüchtigen Blick auf die Uhr, die über dem alten, schwarzen Klavier hing und dessen Zeiger quälend langsam von Ziffer zu Ziffer tickte. Wann war diese schreckliche Klavierstunde bloß endlich zu Ende?

>>Hast du seit letzter Woche eigentlich ein einziges Mal Klavier geübt?<< Mein Klavierlehrer Herr Sauer (glaubt mir, dieser Name beschreibt seinen Charakter perfekt) schlug mit seiner Faust auf seinen Oberschenkel und deutete dann wutschnaubend auf die Noten, die vor mir lagen. >>Du spielst, als hättest du noch nie ein Klavier gesehen, geschweige denn auf einem gespielt! Ich schäme mich sagen zu müssen, dass du schon seit über fünf Jahren bei mir Unterricht hast und selbst meine jüngste Schülerin besser als du spielt!<<

Und ich schäme mich sagen zu müssen, dass ich schon seit fünf Jahren bei Ihnen Unterricht habe und Ihnen noch kein einziges Mal meine ehrliche Meinung über Sie gesagt habe!, dachte ich, traute mich jedoch nicht, ihm das ins Gesicht zu sagen. Ich hatte ihn schon öfters zornig gesehen und verspürte keinesfalls das Bedürfnis, es nochmal zu erleben. Gebrüll, Beleidigungen und einige demolierte Möbelstücke waren bei seinen Wutausbrüchen vorausprogrammiert.

>>Kira, hörst du mir überhaupt zu?<< Herr Sauer beugte sich von seinem Sessel zu mir vor und zwang mich dazu ihn anzugucken.

>>Ja.<< Mein Blick fiel auf den Brotkrümel, der noch in Herrn Sauers grauen Vollbart hing, und ich hätte mich am liebsten gleich wieder abgewandt, doch er konnte es nicht leiden, wenn man seinem unfreundlichen Blick immer auswich, und wie gesagt - ich wollte ihn nicht verärgern. Was jedoch ziemlich schwer war, denn er regte sich über jede klitzekleine Kleinigkeit auf. Über einen Knick in den Noten, einen falschen Ton, ein falsches Wort und vor allem - das allerschlimmste - über zu lange Fingernägel. >>Soll ich die Stelle noch mal spielen?<<, fragte ich und war froh, mich wieder den Noten zuwenden zu können, als er langsam nickte.

>>Gib dir dieses Mal aber ein wenig mehr Mühe!<<, fauchte er und deutete mit seinem wulstigen Zeigefinger auf die Stelle in den Noten, in der er mich soeben unterbrochen hatte. >>Und denk daran, diese Note hier<< - er versperrte mir mit seinem Finger die Sicht auf die besagte Note, doch ich sprach ihn lieber nicht darauf an - >>ist ein b, kein h. Schreib dir das hinter die Ohren!<<

Ich nickte schnell und begann zu spielen. Hochkonzentriert spielte ich Ton für Ton, um auch ja keinen Fehler zu machen, der wieder mit einem Das kommt davon, wenn man nicht übt! kommentiert werden würde.

>>Na siehst du, geht doch<<, murmelte Herr Sauer, als ich die Stelle gespielt hatte, >>Das nächste Mal bitte nur etwas überzeugender! Na, worauf wartest du, spiel weiter!<<

>>Ja, ja, wollte ich gerade machen...<<, verteidigte ich mich genervt.

>>Nicht reden, während du spielst. Ich will dich spielen und nicht reden hören!<<

Ich spielte die nächsten Takte, warf einen kurzen Blick zur Uhr - immer noch eine Viertelstunde bis zum Unterrichtsende - und schaute danach zurück auf die Noten. In welchem Takt war ich gerade noch mal? War es dieser oder...

>>Kira, was spielst du da überhaupt?<<, unterbrach Herr Sauer mich und ich konnte einen Hauch Wut in seiner Stimme mitschwanken hören. >>Du spielst ja was völlig anderes als dort in den Noten!<<

>>Entschuldigung, ich bin in der Zeile...<<

>>Komm mir ja nicht wieder mit deinen unglaubwürdigen Ausreden. Du hast mal wieder nicht geübt, das sehe ich doch auf den ersten Blick.<<

Der KlavierlehrerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt