11.Kapitel

819 25 1
                                    

Die Wochen nach dem Konzert wirkte Nils stets gut gelaunt, wenn er zum Unterricht erschien. Noch gut gelaunter als sonst. Er strahlte mich zur Begrüßung an, umarmte mich so fest, als würde er mich nie wieder loslassen wollen, und mitten im Unterricht fing er manchmal an, aus irgendeinem unbestimmten Grund zu grinsen. Ich bildete mir ein, er wäre wegen mir so. Immer öfters geriet ich in Versuchung, ihn während des Unterrichts einfach zu küssen oder ihm endlich alles zu gestehen. Doch ich traute mich nicht. Nach diesem Schritt gäbe es keinen weiteren mehr, entweder wir würden zusammen kommen oder er würde mir sagen, dass er nichts für mich empfand, und dann wäre nichts mehr wie vorher. Ich wollte unsere Freundschaft nicht riskieren.

Es war ein sonniger Donnerstagnachmittag im August, an dem sich alles zu ändern begann. Nils kam zum Unterricht wie immer, er umarmte mich wie immer und wir scherzten herum, bevor er sein Tablet herausholte, um mir neue Noten zu zeigen. Wie immer.

>>Ich habe neue Noten für dich...<< Nils wirkte irgendwie verunsichert, als er auf seinem Tablet herumtippte und nach den richtigen Noten suchte.

Wir saßen nebeneinander am Klavier, so dicht aneinander, dass sich unsere Beine berührten. Auch wenn es mittlerweile das normalste der Welt war, wenn Nils und ich uns mal zufällig berührten oder er mir sein umwerfendes Lächeln schenkte, bekam ich jedes Mal aufs Neue Bauchkribbeln. Wahrscheinlich würde ich mich nie daran gewöhnen.

>>Bach?<<, fragte ich, >>Mozart? Oder mal wieder Vivaldi?<<

>>Nein<< Nils schüttelte mit dem Kopf. >>Dieses Mal ist es nichts Klassisches... eher etwas Modernes...<< Er zeigte mir die Noten auf seinem Tablet. Mit offenem Mund starrte ich auf den Namen des Stückes. Perfect von Ed Sheeran. Ein Liebeslied.

 >>Nur wenn du mich nicht zwingst, dazu zu singen!<<, scherzte ich und versuchte verzweifelt, mir meine Freude nicht anmerken zu lassen. Seitdem ich ihn kannte, wünschte ich mir, mit ihm zusammen ein Liebeslied zu spielen. Nicht nur irgendwelche Etüden, endlose Konzerte oder fröhliche Volkslieder. Klar, mit ihm spielte ich auch so etwas gern. Aber neben ihm am Klavier zu sitzen, all meine Gefühle auf den Tasten auszuleben zu lassen, während die Melodie eines Liebesliedes durch den Raum schallte – das wäre etwas vollkommen anderes. Das war mein Traum. Und jetzt würde dieser Traum vielleicht in Erfüllung gehen.

>>Keine Sorge, deinen Gesang möchte ich mir nicht antun.<< Nils grinste, wirkte jedoch noch immer irgendwie verunsichert. >>Was hältst du denn von dem Stück? Oder willst du lieber eine Sonate von Vivaldi spielen?<<

>>Nein, nein<<, sagte ich schnell und schüttelte den Kopf. >>Das Stück ist... perfekt!<<

Nils lachte über meine Wortwahl und atmete tief durch. Er wirkte aufgeregt, was mich nur noch in meiner Vermutung bestärkte, dass es auch sein größter Wunsch war, mit mir zusammen ein Liebeslied wie Perfect zu spielen. Und auch sein größter Wunsch würde gleich in Erfüllung gehen.

>>Gut<< Nils stellte das Tablet auf dem Klavier ab und räusperte sich. Ich konnte sehen, dass seine Hände zitterten. >>Ich spiele es dir erst einmal vor und dann spielen wir es zusammen, wenn auch langsamer. Okay?<<

Ich nickte und er begann langsam und behutsam die ersten Töne anzuspielen. Aufmerksam beobachtete ich ihn, während er mit geschlossenen Augen und einem Lächeln auf dem Gesicht Zeile um Zeile des Stückes spielte. Ich hatte ihn schon oft spielen gehört, aber noch nie hatte er so glücklich dabei gewirkt. Sein Körper wippte im Takt vor und zurück, seine Lippen formten stumm den Text, der unter den Noten geschrieben stand. Er versank völlig in der Musik, als gäbe es nur noch ihn und das Klavier. Erst als der letzte Akkord verklungen war und Nils langsam wieder die Umgebung wahrzunehmen schien, merkte ich, dass ich die Luft angehalten hatte. Eine Träne lief mir die Wange herab, ich schnappte nach Luft und starrte Nils mit offenem Mund an.

>>Das war wunderschön!<<, hauchte ich atemlos.

Nils lächelte und wischte sich ebenfalls eine Träne aus dem Augenwinkel. >>Wollen wir es jetzt zusammen spielen?<<

>>Ja<<, nickte ich und setzte mich ganz nah an ihn heran, sodass ich seinen warmen Körper deutlich an meiner Seite spüren konnte. Mein Herz schlug so stürmisch, dass ich fürchtete, es würde jeden Moment aus meiner Brust herausspringen.

>>Gut, bei drei spielen wir.<< Nils warf mir ein flüchtiges Lächeln zu, das meinen Mund dennoch ganz trocken werden ließ. >>Und zwar wirklich erst dann, wenn ich bis drei gezählt habe!<<

Ich nickte. >>Heute halte ich mich ausnahmsweise mal daran.<<

Er stieß mir sanft seinem Ellenbogen in die Seite. >>Eins, zwei, drei<<, zählte er langsam.

Und dann spielten wir. Seite an Seite, Zeile für Zeile. Die Melodie von Perfect schallte durchs Haus. Mein Traum ging in Erfüllung.

Der KlavierlehrerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt