~ eins ~

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Mit den Worten "Ich muss noch mal schnell etwas mit den Jungs erledigen" verschwand mein Vater in die kühle Abendluft. Meine Anwesenheit auf dem Treppenabsatz hatte er bei der Benachrichtigung meiner Mutter unten im Flur nicht einmal mehr wahrgenommen. Musste er auch nicht, er wusste, dass ich nichts dagegen tun konnte, dass er noch einmal raus ging. Und meine Mutter, die brav da stand und nickte, auch nicht

Um ehrlich zu sein machte ich mir schon Sorgen um meinen Vater. Irgendwie. Auch, wenn ich fand, dass es falsch war was er da eigentlich tat. Es war falsch was alle Menschen in meinem näheren Umfeld tat. Allerdings überkam mich so ein Gefühl, als ob er dieses Mal etwas wirklich schreckliches tun würde. Nicht nur eine kleine Straftat, eine kleine Schlägerei. Als ob ich heute Nacht nicht mehr weg sehen konnte.

Also verkroch ich mich einfach nur brav in mein Zimmer und versuchte meine Schularbeiten zu erledigen. Als Zahlen und Buchstaben langsam aber sicher zu Gewehren und Blutflecken wurden, da schob ich das Schulheft fort. Stattdessen griff ich blindlings ins Bücherregal. Ich starrte auf den Titel: "Im Westen nichts Neues". Ich hatte es nie geschafft das Buch fertig zu lesen, es war für meinen Geschmack einfach zu brutal.

Doch auch das Buch konnte mich nicht ablenken. Es erinnerte mich viel mehr an diese kaputte Stadt vor unserer Haustüre und all die schlimmen Dinge, die mein Vater womöglich im Moment mit sonst wem anstellte. Senfgas, Schützengräben und eitrige Verbände waren wohl gerade also nichts für mich. Ich beschloss also meine langweiligen Mutter ein wenig Gesellschaft zu schenken.

An der Küchenuhr konnte ich ablesen, dass es schon sehr spät war, als ich mich an den Tisch setzte und meine Mutter beobachtete. Sie kochte immer noch fleißig an einem riesigen Topf herum und im Ofen backte ein Laib Brot munter vor sich hin. Wahrscheinlich ging meine Mutter davon aus, dass mein Vater später mit seiner gesamten Horde zurückkehren würde.

"Mum", fragte ich und nibbelte dabei an einem Holzspleiß herum der aus dem alten Tisch heraus stand. "Dad ist immer noch nicht wieder gekommen, oder?" Sie schüttelte einfach nur den Kopf, war komplett in ihrem Element, die brave Hausfrau.

"Hm...wieder auf Tour mit den Jungs?", hakte ich noch einmal nach. "Ja mein Schatz", lachte sie "Was glaubst du denn, warum ich hier diesen riesigen Eintopf koche? Jedenfalls nicht,w eil ich Lust darauf habe!

Beinahe hätte ich so etwas gesagt wie "Du willst das sehr wohl, weil du dich einfach nicht emanzipierst!". Aber ich sagte es nicht, sonst hätte ich mir heute Nacht nur wieder eine Standpauke meines Vaters anhören müssen, weil meine Petzte von Mutter es ihm erzählt hätte. Weil sie eben wirklich nicht emanzipiert war. Ich hätte am nächsten morgen nur ein blaues Auge und wäre viel zu müde. Dabei hatte ich morgen doch diese Mathematik-Klausur, die doch so ungemein wichtig war und für die ich ausnahmsweise tatsächlich wirklich viel gelernt hatte.

Also sagte ich nur: "Aha" und nibbelte weiter am Tisch herum. Als sich der Fetzen langsam vom restlichen Massivholz löste, drückte ich ihn vorsichtig wieder an, damit der nächste der hier saß auf jeden Fall mit dem Pullover daran hängen blieb. Es war nur eine kleine Rebellion, aber mehr konnte ich mir in diesem Haushalt nicht leisten.

Mein Vater, John McKeague, war der wichtigste Waffenhändler hier in Belfast. Wir waren Nordiren, ehemalige Schotten, und ganz offensichtlich auch Protestanten. Im Red Hand Commando hatte mein Vater ein recht hohes Ansehen und eine ganze Horde an gehirnlosen jungen Männern die ihm folgten. Die alles taten was er verlangte. Egal wie illegal oder blutig oder einfach nur falsch. Und ich war die einzige in diesem Lager, die diese ganzen Konflikte in Frage stellte. Ganz tief in mir drin war ich ja vielleicht ja sogar Pazifist. Nur das konnte ich niemandem zeigen, niemandem erzählen. Vor allem nicht meinem Vater.

Ich stand auf und warf einen Blick auf die Küchenuhr an der Wand über der Küchentüre. Halb zwölf. "Ich geh ins Bett, Mum, morgen habe ich eine wichtige Klausur", sagte ich brav und blauäugig. "Ich schicke dir Daddy kurz hoch, wenn er heim kommt, dann bist du ja vielleicht noch wach.", rief mir meine Mutter hinterher. Als ob ich noch sieben Jahre alt und mein Vater die Art von Mensch wäre, der Küsschen zum Einschlafen verteilte. Ich beschwerte mich nicht in der Hoffnung, er würde erst so spät heimkommen, dass ich schon längst in einer friedlichen Traumwelt gefangen wäre und nicht einen auf Bilderbuch-Familie spielen musste.

Mauern ▄ a.i. [AU]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt