ᴛʜᴇ ᴜɴᴡʀɪᴛᴛᴇɴ ʜɪᴇʀᴀʀᴄʜʏ ᴏғ sᴏᴄɪᴇᴛʏ

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Seitdem man mir das erste Mal mein Pausenbrot geklaut hatte, machte ich mir Gedanken, über die ungeschriebene Hierarchie der Gesellschaft.

Kein Mensch ist gleich, aber trotzdem kann man sie in verschiedene Kategorien unterordnen, die dem Prinzip einer Nahrungskette entsprechen. Nur weigerte ich mich strikt es - auf Taehyungs Vorschlg hin - als Nahrungskette zu bezeichnen. Hauptsächlich, weil a) ich mir selbst keinen Kannibalismus unterstellen wollte, b) die Idee von Taehyung kam und c) er derjenige war, der mir damals mein Pausenbrot geklaut hatte.

Was ich mit dieser Theorie allerdings ursprünglich beweisen wollte, war, dass es sehr wohl noch Alphatiere gab, die sich oftmals unbeabsichtigt über andere stellten, einfach weil sie es konnten. Dieser eine Freund, der die Gruppengespräche führt und dem alle an den Lippen hängen, auch wenn er nur über Waschmaschinen palaverte. Dieses eine Arschloch, dem alle hinterherrennen, aus Angst selbst in sein Blickfeld fallen zu können. Dieser eine Wildfremde, der mit einem Blick schon realisiert hat, dass du ihm unterlegen bist, und dich entsprechend behandelt. Nicht immer schlecht, aber herablassend genug, um meine Theorie zu beweisen.

Es gibt sie überall.
Und es hatte irgendetwas mit den Genen zu tun, weshalb ich niemanden wirklich vorwerfen konnte, dass ich kein Alpha war. Aber trotzdem wünschte ich mir zumindest in manchen Situation wenigstens zur Mittelschicht der Leute zu gehören. Zu den Normalen, die man in Ruhe ließ, weil man sie entweder nicht einschätzen konnte oder aber sofort sah, dass sie dir nichts tun würden.

Aber nein. Ich hatte die Arschkarte gezogen.
In jeglicher Hinsicht.

Es war mir wirklich nicht vorzuwerfen, dass ich nach zehn Minuten auf dem obersten Deck die Bar verlassen hatte, um mir ein ruhiges Eckchen zu suchen, von dem aus ich ein bisschen das offene Meer betrachten konnte.

Wir lagen zwar noch für etwa eine Viertelstunde im Hafen von Busan, aber trotzdem feierten die Leute schon ihr glückliches Leben.
Aßen, tranken, tanzten.

Mir war zwar bewusst, dass ich eine Aushilfe war, ein Glasauge hatte und in einem Batman-Hoodie rumlief ohne die Filme je gesehen zu haben, aber trotzdem fühlte ich mich unter den Blicken der Leute unwohl.

Es hatte nichts damit zu tun, dass hier alle ungefähr hundert mal mehr Vermögen besaßen, als ich. Vielmehr lag es daran, dass diese Menschen durch ihr Geld genau wussten, woran sie waren.
Und genau wussten, wer ich war, beziehungsweise nicht war; Einer von ihnen.

So schön die Musik und Lichter auch waren und so sehr ich es auch genoss nach so langer Zeit einmal wieder richtig unter Menschen zu kommen, lange aushalten konnte ich es nicht.

Etwas deprimiert über diese Gedanken und meine Gene, die mir vorenthielten Charisma zu haben, drehte ich mich um und wandte den Blick wieder auf die überdachte und bunt beleuchtete Tanzfläche, auf der Menschen versuchten ihren Hüftschwung zu beweisen und ihre Sorgen, bescheuert dabei auszusehen, in Alkohol ertränkten. Hätten sie es bloß nicht getan und stattdessen einfach gelassen. Ich verspürte schon allein vom Zusehen Fremdscham.

Früher hatte ich viel getanzt.
Viel und gern. Von Ballett zu Hip Hop.
Und ich war gut gewesen, ohne eingebildet zu klingen, doch seitdem meine Eltern der Meinung waren, dass die Welt es auf mich abgesehen hatte, hatte ich aufgehört und es seitdem nie wieder getan.
Und ich würde es wohl noch ein wenig länger nicht tun. Jedenfalls nicht solange diese Menschen noch zu genau auf mich achteten.

Ich war bestimmt schon viel zu eingerostet, auch wenn das Tanzen die einzige Sache war, bei der ich mich nicht geschämt hatte, es nicht sofort zu können und aufgrund dessen zu üben. Hauptsächlich, weil ich entweder früh morgens ins Studio gefahren war oder spät am Abend, wo ich sowieso allein war und mich keiner beobachtete.

El Dorado  ⇢ Yoonmin [pausiert]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt