Erinnere den Anfängen

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Damals, mitten in Atlanta ...

„Um Gottes Willen, bitte hör auf, Tamara!" Das Lachen der kleinen Gruppe wurde nur von wenigen der anderen Studenten wahrgenommen, die sich ebenfalls während der Mittagspause im Forsyth Park direkt gegenüber des Savannah College of Art and Design aufhielten.

Die angesprochene brünette Studentin dachte überhaupt nicht daran, der Bitte ihrer Kommilitonin zu Folge zu leisten und äffte weiterhin mit großer Freude die erste Sekretärin des Dekans nach. Mit gespielter Strenge hielt sie ihren rechten Zeigefinger nach oben, leicht versetzt vor ihr Gesicht, schürzte die Lippen und verdrehte dabei ihre blauen Augen.

Bis sie selbst nicht mehr ernst bleiben konnte und prustend in das Lachen ihrer Freundinnen einstieg. Es war ungewöhnlich warm und stickig, seit Tagen schon, und alle Bewohner der Stadt sehnten sich nach erlösendem Regen, der die Temperaturen vielleicht für einen kurzen Zeitraum senken würde.
„Habt ihr schon mit der Hausarbeit für Mrs. White angefangen? Ich glaube sie hasst unseren Kurs, anders kann ich mir dieses furchtbare Thema nicht erklären." Olive, mit der Tamara ein oder zwei Kurse besuchte, rieb sich die Augen und warf dann den Kopf in den Nacken, gefolgt von einem leidvollen Stöhnen.

Die anderen verneinten ihre Frage, stimmten ihr aber bei der Bemerkung zu ihrer Professorin zu und hatten ein neues Thema gefunden, womit sie sich ablenken konnten. Tamara beteiligte sich nicht daran, sie hatte viel für die Mittfünfzigerin übrig, konnte sie doch recht gut leiden und hatte tatsächlich die Hausarbeit bereits erledigt, obwohl sie sie erst vor einer Woche gestellt bekommen hatten. Wie bereits auf der Highschool wurde sie ihrem Ruf als Streberin doch immer wieder gerecht.

Strebsamkeit war das passende Attribut für Tamara, womit sie nicht selten aufgezogen wurde. Nur in Ausnahmefällen stand sie im Mittelpunkt, wenn es dann der Fall war, fühlte sie sich jedes Mal aufs Neue unwohl und versuchte solchen Situationen schnell wieder zu entfliehen. Sie hielt sich im Hintergrund, organisierte und strukturierte. Sie war nicht wirklich der extrovertierte Typ Mensch, schon gar nicht vor Fremden und nahm lieber durch zusammengesponnene Ausreden Reißaus vor ihr unangenehmen Momenten.

Tamara versteckte sich lieber in ihrem Studium, in Kunst und Kultur, las unglaublich gerne Bücher und tauchte immer in ihre eigene Welt ab. Nur ein einziges Mal hatten ihre Freundinnen sie dazu überreden können, sie auf eine der Studentenparties zu begleiten und es war die Hölle gewesen. Mindestens vier Typen hatten sich an ihr die Zähne ausgebissen, hatten versucht sie in ein Gespräch zu verwickeln, ihr etwas zu Trinken anzubieten oder mit ihr zu tanzen.

Tamara war einfach nicht das typische Studentenmädchen, hatte kein Interesse an Parties, hatte kein Interesse daran sich aufzubrezeln oder irgendjemandem zu gefallen. Sie war sie selbst und das machte sie für ihre wenigen Freundinnen so besonders und einzigartig.

„Habt ihr eigentlich schon von diesen seltsamen Videos gehört, die zurzeit im Internet kursieren? Total kranker Mist, wenn ihr mich fragt. Das ist schon wieder so ein Trend, bei dem diese ganze Möchtegerns voll auf den Zug aufspringen, in der Hoffnung, für einen kurzen Moment ein bisschen Ruhm zu ernten." Sarah, ein anderes Mädchen aus der Gruppe, hatte das Thema abrupt gewechselt und somit für Verwunderung gesorgt.

Die Blonde hielt ihr Handy in der Hand und tippte auf dem Bildschirm herum, drehte es dann, sodass die ganze Gruppe das Geschehen auf dem Display verfolgen konnte.

Tamara beugte sich nach vorn und hatte recht schnell die Augenbrauen zusammengezogen. Wie in einem schlechten B-Movie schlurften als Zombies verkleidete Menschen durch die Gegend und griffen scheinbar wahllos andere Bürger an, rissen ihnen ganze Stücke vom Körper und fielen über sie her.

„Keine Ahnung, welcher verwirrte, durchgedrehte Kopf sich das ausgedacht hat, aber es ist schon verdammt real gelungen." Olives Gesicht verzog sich anerkennend, die Augen zu Schlitzen verengt und griff nach ihren Weintrauben.

„Ich bin mir ja nicht sicher, ob der Mist wirklich gespielt ist." Tamara legte den Kopf schief und griff nach dem Smartphone, spulte ein paar Sekunden zurück und betrachtete die sich ihr bietende Szenerie erneut. Die Schmerzensschreie wirkten verblüffend überzeugend, das Video war ungeschnitten und sie konnte das flaue Gefühl in ihrem Magen nur schwer verdrängen.

Bevor eine von ihnen etwas auf den Einwand der Brünetten erwidern konnte, rief eine tiefe Männerstimme nach ihr. „Tamara! Der Dekan will uns beide in seinem Büro sehen, es geht um das Projekt!" Marcus, einer der Short-Before-End-Studenten, eine Bezeichnung, die sich nach und nach immer mehr etabliert hatte, kam auf die Gruppe zu und blieb einige Meter von ihnen entfernt jedoch stehen. Mit einem Nicken deutete er auf das Gebäude der Hochschule und Tamara richtete sich langsam auf.

Sofort zupfte sie an ihrer Shorts herum und zog sie ein bisschen nach unten, damit sie nicht mehr präsentierten als sie sollten.

Mit einem Winken verabschiedete sie sich von den anderen und ging auf Marcus zu, schweigend liefen sie nebeneinander her und schritten die kurzen Treppen nach oben.

Nur entfernt und unterschwellig vernahm Tamara das Geräusch von Sirenen ...

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„Wir müssen definitiv noch an den Fotos arbeiten, der Kurs hat die Vorgaben nicht erfüllt und die Website sollte bereits letzte Woche online gehen." Unruhig lief der Dekan vor Tamara und Marcus hin und her, hatte die Arme hinter seinem Rücken verschränkt und warf ihnen immer wieder ernste Blicke zu. Tamara wusste genau, worauf er hinaus wollte. Sie hatte sich die Bilder angesehen und war selbst enttäuscht gewesen, die Belichtung war grauenhaft, mehr als nur einmal war die Universität auf den Fotos an den unmöglichsten Stellen abgehackt und abgeschnitten dargestellt, Studenten standen Grimassen schneidend mitten im Focus und niemand hatte sich scheinbar darum geschert.

Nicht das erste Mal während des Monologs des Dekans klingelte das Telefon und erneut ging er sehr ungehalten ran. „Ich habe doch gesagt, dass ich nicht gestört werden möchte!" Dumpf vernahm Tamara die Stimme seiner Sekretärin, die Worte verstand sie jedoch nicht.

„Sie soll nicht übertreiben, wahrscheinlich machen sich da ein paar Leute einfach nur einen Spaß und erschrecken wahllos fremde Menschen."

Während er sich aufregte und immer wieder versuchte das Telefonat zu beenden, vernahm Tamara erneut die Geräusche von Sirenen, diesmal näher und deutlicher. Neben ihr erhob sich Marcus aus seinem Sessel und schritt zum Fenster links von ihnen, starrte plötzlich mit irritiertem und leicht ungläubigen Blick nach draußen auf die Straße.

„Was ist denn los?"

From the BeginningWo Geschichten leben. Entdecke jetzt