Kapitel 18 - Facetten

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Ich hatte den Text noch nicht zuende gelesen, da forderte uns unsere Lehrerin schon auf, mit der mündlichen Zusammenfassung zu beginnen. Ich war wohl etwas langsamer gewesen als alle anderen, weil ich mehr Zeit zum Verarbeiten der Worte gebraucht hatte. Aber um keinen schlechten Eindruck zu hinterlassen, sah ich nach vorne und versuchte, aufmerksam auszusehen.
Beteiligen mochte ich mich noch nicht. Ich wusste ja nicht, wie es hier ablief und wollte mich nicht durch dumme Antworten als Neue bloßstellen.

Meine Konzentration wurde durch zwei Jungen gestört, die hinter mir saßen und offenbar Besseres zu tun hatten als dem Unterricht zu folgen. Ich verdrehte genervt die Augen, musste ich ihnen doch ungewollt bei ihrem Privatgespräch zuhören. Ausblenden konnte ich sie nicht recht. Auch Frau Kaha bemerkte, dass die beiden sich offensichtlich nicht mehr auf den Unterricht konzentrierten.

"Gregor und Felix," rief sie in säuerlichem Tonfall. "Wären Sie so freundlich, Ihre Aufmerksamkeit wieder dem Unterricht zuzuwenden oder muss ich Sie durch eine Strafarbeit überzeugen? Auch wenn Sie vielleicht nicht verstehen, warum die Politik der Umbrae so wichtig für Sie ist- " Frau Kaha sprach den letzten Satz so betont mitleidig aus, dass die Ironie nur so aus ihren Worten triefte. Sie spitzte die Lippen und kam eine Reihe hinter mir zum Stehen. "Werden Ihre Eltern über eine schlechte Note nicht gerade begeistert sein, nicht wahr?", vollendete sie ihren Satz mit einem falschen Lächeln.

Ich schluckte. Dieser Frau wollte ich nicht in die Quere kommen.
Das schienen auch Gregor und Felix so zu sehen, denn beide hüllten sich in eisernes Schweigen und starrten auf die Tischplatte vor ihnen.
Ich hatte mich auf meinem Stuhl gedreht, um die Szene besser verfolgen zu können. Mit einem letzten Blick auf die beiden Jungen drehte sich Frau Kaha nach vorne und ihr Blick traf meinen. Für eine Sekunde sah ich sie wie festgefroren an, während sie zurückstarrte.
Es waren nur Millisekunden, bis Frau Kaha sich endgültig umdrehte und zur Tafel ging. Doch ich war mir sicher, dass sie mich mit ihrem Blick nicht gestreift, sondern bewusst angesehen hatte.
Ihre Augen waren eisig gewesen, wie von Frost überzogen. Und ich bildete mir ein, dass sie sich bei meinem Anblick für einen kurzen Moment verdunkelt hatten.
Ich gelobte mir im Stillen, diesen Blick nicht öfter als nötig auf mich zu ziehen.
Es schien hier ja wirklich nichts zu geben, was auch nur ansatzweise nicht gruselig war.

Eine Weile unterrichtete Frau Kaha ungestört weiter.
Doch als sie den Satz: "Wie schön, dass Sie alle damit übereinstimmen, dass die tadellose Politikstrategie der Umbrae zu einem besseren Miteinander führt," aussprach, schoss neben mir eine Hand in die Höhe.
Ohne dass Frau Kaha die Gelegenheit hatte, sie dranzunehmen, prasselte ein regelrechter Wasserfall an Worten auf die Klasse ein, der Sophias Mund entstammte.

"Ich denke, Sie lehnen sich mit ihrer Aussage ziemlich aus dem Fenster, Frau Kaha! Die Politikstrategie der Umbrae ist weder tadellos, noch stimmen alle damit überein, noch führt diese Strategie zu einem besseren Miteinander!"
Ihre Stimme schwoll an.
"Das, was Sie uns erzählen ist doch alles erlogen! Die Umbrae haben immer versucht, die Politik durch Machtmissbrauch zu ihren eigenen Gunsten zu beeinflussen. Von wegen verantwortungsvoller Umgang!"
Anklagend zeigte sie auf das Blatt.
Frau Kaha versuchte, sie zu unterbrechen und zum Schweigen zu bringen, doch Sophia ging gekonnt darüber hinweg.
"Die Umbrae versuchen vor allem ihre Familien an die Macht zu bekommen und wenn jemand zu viel erfährt oder stört, wird er aus dem Weg geräumt! So ist das!"

Sophia hatte sich in Rage geredet und war immer lauter geworden. Ihre Augen blitzten und ihre Wangen waren gerötet.
Frau Kaha dagegen war blass vor Wut geworden und versuchte, meine Sitznachbarin niederzustarren. Ich wusste nicht, wie Sophia diesen Augen aus Eis standhalten und den Blick erwidern konnte.
"Das sind bösartige Verleumdungen," presste Frau Kaha hervor.
"Ach ja?" Sophia ließ sich nicht einschüchtern. "Was ist zum Beispiel mit John F. Kennedy? Der Präsident, der kein Umbra war, erschossen wurde und durch einen Umbra ersetzt wurde? Das ist doch alles Schmierentheater!", empörte sie sich weiter.

"Es gibt keinerlei Beweise und auch keinen Grund zu solch einer Annahme." Frau Kaha bemühte sich, wieder Herr der Situation zu werden.
Die Spannung, die in der Luft lag, war beinahe greifbar.
Die Klasse hatte auf Sophias Bemerkungen hin immer wieder angefangen zu flüstern, doch schnell war wieder Ruhe eingekehrt.
Wirklich überrascht über diesen Ausbruch schien außer mir jedoch keiner. Daraus schloss ich, dass es nicht das erste Mal war, dass Sophia Widerworte gab.
Dass es ausgerechnet sie war verwunderte mich. Ich hätte Sophia, die mir bis jetzt immer fröhlich und sorglos erschienen war, niemals als eine so kritisch hinterfragende Person eingeschätzt. Diese Facette an ihr hatte ich offensichtlich noch nicht kennengelernt.

"Wie kommen Sie überhaupt dazu, so etwas zu behaupten?", ging Frau Kaha nun in die Offensive.
"Es ist ja erstaunlich, dass Sie so etwas wissen, obwohl Sie meinen Unterricht so selten besuchen, Sophia Bingenn! Kommen Sie für dieses Halbjahr eigentlich auf die Mindestanzahl der Politikstunden oder haben Sie schon ein Minus?"
Die Klasse war mucksmäuschenstill geworden. Frau Kaha genoss die ihr zuteil werdende Aufmerksamkeit und ihre Stellung sichtlich.

"Hat Ihre Familie diese Gerüchte eigentlich in die Welt gesetzt? Es ja allgemein bekannt, dass die Bingenns Taugenichtse sind, die die Gemeinschaft der Umbrae nicht durch ihre Fähigkeiten und ihr Engagement bereichern."
Die offensichtliche Häme in Frau Kahas Worten ließ mich zusammenzucken.
Das war eindeutig ein Schlag unter der Gürtellinie.
So durfte doch kein Lehrer mit einem Schüler sprechen! Und ihn dann noch so persönlich angehen und beleidigen! Das war verboten!

Mein Blick wanderte zu Sophia, die wie versteinert an ihrem Platz saß. Innerlich wappnete ich mich schon gegen einen Wutausbruch, doch sie antwortete erstaunlich gefasst:
"Mit 'bereichern' nutzen Sie genau das richtige Wort. Meine Familie unterstützt kein organisiertes Unrecht!
Wenn Sie mich bitte entschuldigen."
Sophia stand auf, das Gesicht eine ausdruckslose Maske.
"Ich halte es nicht für sinnvoll, weiter hier zu bleiben." Geschwind stopfte sie ihre Schulsachen in den Rucksack und verließ hoch erhobenen Kopfes den Raum.

Keiner wagte, die Stille, die auf die ins Schloss fallende Tür folgte, zu unterbrechen. Stumme Blicke wurden ausgetauscht.
Da ich niemanden hatte, mit dem ich  Blicke austauschen konnte, sah ich stattdessen zu Frau Kaha.
Sie stand mit zusammengekniffenen Lippen vorne und schien es nicht fassen zu können, wie Sophia ihre Autorität untergraben und sie vor der Klasse bloßgestellt hatte.
"Das wird ein Nachspiel haben," zerriss sie die Stille.
"Ein hervorragendes Beispiel dafür, dass man als Gemeinschaft zusammenhalten muss, nicht wahr? Solche Umbrae schaden dem System!"

Mal ne ernst gemeinte Frage:
Wirkt Frau Kaha realistisch oder ist das total abgedreht?
Als ich das geschrieben habe war ich mir echt nicht sicher... ;)
Eule 1805

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