5. Ich hasse freche Mädchen.

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Victims

,, Ich hasse freche Mädchen."

I don't know where I am

I don't know this place

Don't recognize anybody

Just the same old empty face

See these people they lie

And I don't know what to value anymore

But I know I must play my part

My tears I must conceal

,, Großstädte sind alle gleich." Das hört man täglich in den Nachrichten, liest es in Zeitschriften und Zeitungen, doch so ist es nicht.

Jede Großstadt hat einen Geist. Jedes Viertel seine eigene Geschichte, eigene Vorlieben und Ängste. Es kommt nicht darauf an, ob es ein vornehmes Reichenviertel mit schicken Häusern und glänzenden Autos oder ein umgangssprachlich als ,, Ghetto" bezeichnetes Armenviertel mit hohen, abgekommenen Gebäuden und kleinen Kindern auf der Straße ist.

In jeder Großstadt fühlt man sich anders, das kann ich aus Erfahrung sagen. Sei es Rom, New York, Berlin oder Istanbul. Tokyo oder Rio. Das Gefühl, die Umgebung und die Menschen sprechen Bände. Alle haben eine verschiedene Aura, die auf dich wirkt.

Doch hat jede große Stadt die selben Nachteile, die sich nicht ändern. Kriminalität. Verkehr. Soziale Differenzen. Gesellschafts Probleme.

Viele Großstadtbewohner würden trotz dieser Probleme ihre Stadt niemals verlassen. Viele werden täglich aufs Neue von ihrer Stadt bezaubert. Ich bin von dieser Sorte.

Doch wenn das Leben deiner Mutter und vieles mehr davon abhängt, ob du pünktlich an einem viel zu weit entfernten Ort ankommst, ist man hoffnungslos verloren und dem Scheitern verdonnert.

So sitze ich hier in einem müffelnden Taxi und hoffe, dass jemand von allen Autos dieser Stadt den Tank leert, damit sie uns ja nicht in die Quere kommen. Der Countdown zeigt 23 Minuten an. Ich werde es schaffen.

,,Können Sie bitte etwas schneller fahren!" Der Fahrer mit einer Halbglatze und einem Schönheitsfleck schaut mich mürrisch an, doch schaltet einmal um. ,, Danke."

Mit der Hoffnung mich etwas entspannen zu können lehne ich mich nach hinten und werde mit einem Ruck wieder nach vorne geschleudert. Die Augen aufgerissen vor Schreck blicke ich nach vorne und beobachte wie Rauch von der Autohaube aufsteigt.

Wir sind direkt in einen schwarzen Mini gefahren. Die junge Fahrerin ist ausgestiegen und spricht in ihr Handy, während sie hysterisch mit ihren Heels auf den Asphalt hin-und herwandert, mit einem entsetzten Ausdruck. ,, Scheiße!", flucht der Fahrer und steigt aus. Ich folge ihm. ,, Hey, Sie müssen weiterfahren! Ich darf nicht zu spät kommen! Los schnell, ich bezahle auch das dreifache, vierfache, was Sie möchten!"

,, Egal wie viel du mir gibst, Mädchen, das Ding wird nicht fahren. Die Polizei wird wohl auch kommen müssen. Such dir lieber ein anderes Taxi."

Bevor er seinen Satz beenden kann renne ich los, ich darf keine Zeit verlieren. 21 Minuten. Ein Seufzen entkommt meiner Kehle. ,,Hey, wo ist mein Geld!?" Ohne ihm weiter Beachtung zu schenken bewege ich mich weiter vorwärts. Ich schaue auf mein Handy und bemerke nicht den Fahradfahrer, der auf mich zukommz und abrupt anhalten muss.

,, Du solltest besser aufpassen, Annabel." Ein Mädchen in meinem Alter lächelt mich schüchtern an und schiebt ihre Brille zurück auf ihre Nase. Sie hat einen Helm auf und darunter schauen rot-orange Locken raus. Mit ihren Sommersprossen und den großen Augen sieht sie sehr hübsch aus, ein Gesicht, dass man nicht so schnell vergisst.

Ein erneuter Blick auf die Uhr: 17. ,,Hör mal. Keine Ahnung woher, aber du scheinst mich zu kennen. Ich brauch' das...", ich zeige auf ihr Fahrrad, ,,jetzt ganz dringend, bitte. Es ist sehr wichtig."

Verwirrt schaut sie mich an steigt, aber doch runter. Hoffnungsvoll steige ich auf und wende das Zweirad. So schnell es mir meine ermüdeten Beine erlauben drücke ich die Pedale. ,, Du hast den Helm vergessen!", ertönt ihre Stimme hinter mir und wird immer leiser. Wie eine verrückte Rase ich durch die Straßen.

Nach gefühlten 10 Minuten bin ich durch etliche Straßen und Parkflächen gefahren. Das Fahrrad ist eine brilliante Idee und wäre mir wahrscheinlich auch gekommen, wenn ich nicht das Leben meiner Mutter in den Händen halten würde.

Mit dem Fahrrad kann ich eine Abkürzung nehmen und geschätzte 10 Minuten sparen. Jedoch kommt ein Auto einfach schneller voran, somal auch meine Kräfte schwinden.

Entschlossen trete ich weiter. Ich kann es schaffen. Ich kann es und muss es. Und in weniger als 10 Minuten werde ich das Leben meiner Mutter retten und alles wird sowie früher. Hoffe ich.

Als ich nur noch wenige Minuten habe bin ich kurz davor in die Friedhofstraße einzubiegen. Es erwartet mich eine böse Überraschung. Die gesamte Straße ist gesperrt aufgrund einer Bauarbeit und unmöglich zu überqueren. Der Friedhof liegt aber auf der anderen Seite. Um außenrum des Blocks zu fahren bleibt keine Zeit.

Ich steige ab und fahre mit meinen Fingern durch mein Haar. Mit zittrigen Händen hole ich das Handy raus und fasse es, als wäre es eine tickende Zeitbombe. Streng genommen ist es auch eine. In weniger als einer Minute wird sie mein Leben für immer verändern.

Hilflos schaue ich mich um, doch niemand der mir helfen kann. Vielleicht sollte ich losrennen und es doch versuchen. Vielleicht sollte ich den Typen von vorhin anrufen und versuchen seinen Mitleid zu gewinnen. Vielleicht sollte ich die Polizei oder Rebecca anrufen.

Stattdessen falle ich neben dem Fahrrad auf die Knie und fange an leise zu weinen. Das Handy in meiner Hand vibriert ungeduldig und kündigt damit das Ende an.

Alles ist vorbei und nicht mehr lange und meine Mutter wird sterben. ,,Meine Mutter wird sterben." Dieses Mantra wiederhole ich für mich selbst und eine seltsame Erleichterung erfüllt mich. Jetzt wo alles vorbei ist, fühle ich mich erleichtert. Nichts was ich noch retten kann. Alles vorbei.

Meine Hand fängt erneut durch die Vibration des Handys an mitzuzittern und ich schaue darauf. Mit einem erneuten Anfall an Tränen klammere ich mich an das kleine Handy.

Auf dem Bildschirm ist meine Mutter in dem selben Bild wie in diesem Video. Aus dem Off höre ich eine Stimme:

,, Vergiss nicht wie du dich gerade fühlst Annabel. Niemals. Jetzt weist du, wozu wir in der Lage sind. Verhalte dich dementsprechend. Das Leben deiner geliebten Mutter hängt von dir ab. Tu einfach was wir dir sagen und stelle keine Fragen. Und noch etwas. Ich hasse freche Mädchen. Und mit meinem Hass willst du nichts zu tun haben, stimmt's Rosie?" Er betont jedes seiner Worte. Bei dem Namen meiner Mutter zucke ich zusammen.

Aber ich habe nur Augen für meine Mutter. Ihre Augen schauen direkt in die Kamera, doch sie sehen so fremd aus. Dieses Strahlen, welches mir immer Kraft und Hoffnung gab, ist nicht mehr da. Stattdessen sehen sie leer und ermüdet aus.

,, Ich lebe Annabel. Tu nichts was sie sagen, glaub ihnen nicht! Sag Nicholas, dass ich ihn liebe..." Ich schluchze erneut, als meine Mutter von einem in schwarz gekleideten Mann geschlagen wird und aufschreit.

,, Nein, nein, stopp! Ich tue was ihr wollt, hört auf damit! Tut ihr nichts!"

,,Geh zu dem Treffpunkt. Sofort."

Die Unterhaltung ist beendet, doch ich habe nicht den Mut das Handy wegzulegen. Ich klammere mich daran, als ob alles davon abhinge.

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