MISSVERSTANDEN

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Schweißgeruch gemischt mit meinem Parfüm. Mit stark alkoholischen Drinks ertränkte Schuldgefühle kommen langsam wieder hoch. Erinnerungen an ein anderes Ich, eines mit mehr Selbstbewusstsein. Trockener Mund, jemand hat an ihm gesaugt. Erschöpfter Körper, jemand hat mit mir getanzt. Eine Wahnsinnsnacht hinter mir, doch wieder nichts davon behalten.

Die Lautsprecher der Bahn wecken mich, ich habe schon wieder stundenlang geschlafen auf einem Plastiksitz, inmitten von Menschenmassen. Es ist Sonntag 9 Uhr morgens. Ich fühle den Blick einer alten Dame an mir. Sie sieht mich nicht an, sie glotzt. Ich fühle das Gewicht Ihres Blickes. Ich sehe so vieles in Ihrem Blick. Einen Ausländer, der sich nicht integriert, einen Schmarotzer der Gesellschaft, einen Alkoholiker, einen Rabauken, einen arroganten Menschen, jemand Hässliches, innen wie außen. Ich sehe Ekel in Ihrem Blick, ich sehe Verachtung und Ignoranz.

Während meine Gedanken weiter rattern, nehmen meine Augen wahr, dass sich ihre Lippen bewegen und ich versuche mich vorzubereiten, eine schlagfertige Antwort auf Ihre verachtenden Worte zu finden.

„Junger Mann, Ihnen ist Ihr Telefon heruntergefallen. Da sie schlafen und ich sie nicht wecken wollte, passe ich schon eine Weile auf, dass es Ihnen niemand wegnimmt."

Ich war so verwirrt. Ich würde auf alles eine schlagfertige Antwort finden. Hätte sie mich beleidigt, egal ob rassistisch oder meines Zustandes bedingt, auf alles hätte ich eine Antwort, aber ich schwieg. Ich stieß nur stotternde und stöhnende Geräusche aus, als ich mein Handy aufhob. Ich wollte aussteigen, um dieser unangenehmen Situation zu entfliehen. Am Weg hinaus versuchte ich mich zu bedanken, mein Mund öffnete sich, doch mein trockener Hals ließ nicht zu, dass etwas meinen Stimmbändern entwich, was zur Folge hatte, dass ich mich umso mehr schämte. Sie grinste mich an und ich stieg aus.

Plötzlich hatte ich das Gefühl, das jeder Blick mir gegenüber mit Verachtung geschmückt war. Ich schlage mir gegen den Kopf und versuche die Gedanken zu unterdrücken, was mich vermutlich verrückt erscheinen lässt. Ich sitze auf der Haltestelle und warte auf die nächste Bahn, doch als sie kommt, fühl' ich mich nicht bereit, um einzusteigen. So sitze ich stundenlang auf dieser Haltestelle, tief in den Himmel blickend und lasse die Situation Revue passieren - solange, bis ich zur Erkenntnis komme, die ich suche.

Alle Gedanken, die ich dieser Dame andichtete, sind eigentlich meine.

Keiner kann mich akzeptieren, wenn ich es selbst nicht mache.

Ich muss mich lieben, um geliebt zu werden.

Ich bin gut so, wie ich bin.

Thoughts at NightWo Geschichten leben. Entdecke jetzt