Kapitel 10 - Verpasste Chance

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Kapitel 10 – Verpasste Chance

12:25 Uhr; Hauptquartier von Xernox

„Kennst du diesen Ilias?", wandte ich mich an Lennox neben mir, während ich Liam nachsah. Dieser hatte uns gerade aus seinem Büro geworfen und eilte nun den Gang hinunter. Er hatte nur irgendwas vor sich hingemurmelt, dass er zu seinem Vater fahren würde. Offensichtlich wollte er wissen, ob dieser etwas über Ilias Aufenthalt hier in Lisamis wusste. Und vor allem, warum der Rote Stern einen so großen Aufwand betrieb, um ihn zu finden.
Lennox schüttelte den Kopf, nachdem Liam um die nächste Ecke verschwunden war. „Ich habe Liam ein paarmal über einen Ilias sprechen hören. Vor allem, als Mika vor einigen Jahren noch hier gearbeitet hat. Aber ich wusste nie, dass Ilias sein Halbbruder ist." Lennox seufzte. „Auf jeden Fall kommen wir so im Moment mit unserer Recherche nicht weiter. Aber vielleicht können wir ja über den Geheimdienst einen DNA-Abgleich genehmigen lassen."
Verwirrt hob ich die Augenbrauen. „Ihr müsst das genehmigen lassen?"
Nun war es Lennox, die mich mindestens genauso verwirrt anschaute. „Ja, wir haben keine Berechtigung, einen direkten Antrag an das Labor zu stellen. Das können nur Liam, Mara, die Vorstandsmitglieder und der Geheimdienst. Hattet ihr bei Luxanus so viele Berechtigungen als Agenten?"
Ich zuckte mit den Schultern. „Eigentlich waren unsere Berechtigungen nie genau definiert gewesen. Wir haben uns eh mit allem direkt an Matthew gewandt. Vermutlich bin ich einfach an den Vorteil gewohnt, dass er Biologe und Chemiker ist und mir solche Tests direkt gemacht hat. Können wir beim Geheimdienst nachfragen, ob sie uns den Abgleich machen?"
Sie nickte. „Ja, Raven und ich sind Agenten mit Alpha-Status, also gehören wir offiziell dem Geheimdienst an und können über diesen einen Genehmigung einholen. Also reden wir am besten mit Dawson."
Da dieser bereits mit Liam den Bürotrakt verlassen hatte, tat wir dies nun auch. Lennox führte mich über unzählige Gänge durch das Xernox HQ, bis wir schließlich in einem Trakt im westlichen Teil des riesigen Gebäudekomplexes standen. Nachdem wir den Einfang des Traktes, der durch eine große Glastür dargestellt wurde, durchquert hatten, machte das sich das rege Treiben bemerkbar. Ich folgte Lennox den Gang hinunter, der in einem großen Raum mündete. Die dunkelhaarige steuerte auf das Büro auf der gegenüberliegenden Seite zu, in dem Dawson an seinem Schreibtisch saß. Links war ein zweiter Schreibtisch, an dem eine Frau in Dawsons Alter saß, die Lennox zur Begrüßung freundlich zunickte.
Wir waren gerade dabei dem Geheimdienstleiter unser Anliegen zu erklären, als Raven sich in das Büro schlich. Dawsons Blick landete direkt auf seinem Sohn, der gleich abwehrend die Hände hob. „Ja, ich wurde von offiziell von der Krankenstation entlassen. Keine Sorge, ich habe mich nicht rausgemogelt."
„Sicher?", hackte nicht Dawson, sondern die Frau links von uns nach und hob die Augenbraue.
„Mom!" Raven wandte sich seufzend ihr zu, schien sich aber ein grinsen kaum verkneifen zu können. „Weißt du eigentlich, dass Dad und du im Moment echt Überfürsorglich seit?"
„Wenn du zwei Mal zusammenbricht darf ich das, Rav", erwiderte sie, während ich das kleine Namensschild auf ihrem Schreibtisch versuchte zu entziffern. Lena Rejkas, sie war die stellvertretenden Leiterin des Geheimdienstes von Xernox.
„Warum bin ich eigentlich hier runter gekommen", murmelte Raven in sich hinein, eh er sich uns zu wandte.
„Wie geht es dir?", fragte ich leise.
„Ganz fit bin ich noch nicht, aber sonst ganz ok. Ich freu mich übrigens, dass du immer noch hier bei Xernox bist."
Ich zuckte lediglich leicht mit den Schultern. „Hab ja eigentlich nichts mehr zu verlieren", nuschelte ich, ging aber sonst nicht weiter auf dieses Thema ein. Ich hatte für mich entschlossen, dass ich dem Ganzen eine Chance geben wollte, also hielt ich mich daran.
„Ok, ich habe einen Vorschlag", zog Dawson unsere Aufmerksamkeit wieder auf uns. „Ihr geht zu Jorden, sagt ihm, dass es von mir abgesegnet ist, dass ihr die Genehmigung bekommt und nimmt dafür Raven mit und habt ein Auge auf ihn." Ein leichtes Schmunzeln schlich sich auf seine Züge. „Bei euch bliebt er ja eher als bei uns."
„Deal", stimmte Raven direkt zu und warf uns einen auffordernden Blick zu.
„Lennox muss zustimmen, nicht du", grinste Lena.
„Ok, ich spiele Babysitter", schmunzelte Lennox. „Dann habe ich wenigstens mal die Erlaubnis, Rav herumzukommandieren und nicht immer nur er mich. Also los, auf zu Jorden."
„Wer ist eigentlich Jorden?", fragte ich, nachdem Lennox Raven und mich aus dem Büro gescheucht hatte und auf das nächste zu steuerte.
„Er ist einer der ranghöchsten Agents des Geheimdienstes", Lennox drückte die Glastür auf und betrat ein Büro, in dem offenbar vier Arbeitsplätze lagen. „Jules?"
Ein dunkelhaariger Mann Mitte zwanzig schaute hinter dem Bildschirm hervor. „Was gibt's?"
„Wir brauchen eine Genehmigung für einen DNA-Abgleich, Dawson hat es auch schon abgesegnet", erläuterte sie. „Und wehe du schickst mich jetzt wieder zu jemand anderem. Ich hasse es hin und her geschickt zu werden."
Der Mann kramte einen Zettel hervor und drückte ihn grinsend Lennox in die Hand, eh er sich mir zuwandte und mir die Hand hinhielt. „Ich bin übrigens Jorden Rijad."
„Jin. Freut mich", stellte ich mich vor und schüttelte kurz die mir dargebotene Hand. Den Vornamen nutzte ich gezwungenermaßen noch, den Nachnamen aber sicherlich nicht mehr.
„Jules, das Formular ist leer", mischte Lennox sich entnervt ein.
„Ja, gut beobachtet. Damit darfst du jetzt zu Montgomery", lachte dieser, eh er sich wieder an seinen Computer setzte.
Lennox knurrte gereizt, schob sich an Raven und mir vorbei und knallte dem Mann an einem der drei anderen Tische den Zettel vor die Nase. „Bitte schick mich jetzt nicht auch noch weiter, Monte."
Bis gerade hatte ich gar nicht bemerkt, dass der dunkelblonde Mann anwesend war, dafür jetzt umso mehr. Dieser beachtete Lennox nämlich gar nicht, sondern schaute unsicher an ihr vorbei zu mir. Die Vertrautheit, die seine grünen Augen immer noch ausstrahlten, ließ mich im ersten Moment zusammenzucken.
„Nathaniel?", Lennox winkte mit dem Zettel vor seiner Nase herum.
„Ich glaube ich kann mit dem Test auch noch warten, bis Liam wieder da ist", murmelte ich leise vor mich hin, während meine Augen fluchtartig den Ausgang suchten.
„Jin", hörte ich seine Stimme und wandte den Blick nun doch wieder Nathan zu.
Ja, auf irgendeine indirekte Art und Weise gehörte ich gerade genau wie er zu Xernox, womit wir auf der gleichen Seite standen, aber der Gedanke, dass er mich die ganze Zeit über das verdrehte Spiel der Marvers hätte aufklären können, hatte sich in meinen Gedanken festgesetzt. Und das war immer noch ein Vertrauensbruch, zumindest für mich.
Da ich immer noch wie erstarrt war und lediglich den Mann anstarrte, für den ich Gefühle hegte, die ich selber nicht verstand, griff Raven schließlich ein. Im Gegensatz zu der ahnungslosen Lennox war er über die Situation aufgeklärt und nahm nun Lennox den Zettel ab. Er gab ihn Jorden zurück, packte mich an der Schulter und drehte mich zur Tür um. „Auf Liam warten halte ich für eine ganz gute Idee."
„Ähm, was geht hier gerade ab?", hackte Lennox schließlich nach, die ziemlich verdutzt dastand. Antworten tat ihr allerdings niemand. Stattdessen erhob Nathan sich auf einmal, als Raven gerade die Tür öffnen wollte. „Warte."
Ich wusste nicht genau warum, trotzdem sah ich kurz zu ihm und gleich brannten sich seine grünen Augen wieder in meine.
„Bitte Jin. Es tut mir leid, was passiert ist. Du verstehst doch sicherlich inzwischen, warum ich nichts sagen konnte..."
„Du wärst der einzige gewesen, dem ich diese ganze Geschichte schon vor Wochen geglaubt hätte. Hättest du mir also gesagt, was die Marvers für ein linkes Spiel spielen, hätten sie mich nicht so manipulieren können."
Nathan atmete tief ein und schien für einen Moment nicht zu wissen, was er sagen sollte. Ich konnte die Reue in seinen Augen sehen. „Ich hätte dich aufgeklärt, wenn ich gekonnt hätte."
„Du warst damals nicht wirklich überrascht, als du erfahren hast, dass wir zu Xernox gehörten", stellte ich leise fest. „Und auch nicht, als ich dir erzählt habe, dass Jason Liams Neffe ist. Du hast das gewusst oder? Du hast alles gewusst."
Ein kleiner frustrierter Funken machte sich in seinem Blick bemerkbar. „Du tust so, als wärst du die einzige, die ich angelogen habe. Alain zum Beispiel, er ist seit Jahren mein engster Freund und hat mich ohne Wenn und Aber bei Nechus aufgenommen, ihn habe ich genauso nicht davon erzählt." Er trat einen Schritt auf mich zu. „Ich habe mich vor Jahren dazu entschlossen, für Xernox zu arbeiten, weil ich an ihre Idealen glaube. An diesem Entschluss werde ich nichts ändern und ich stehe auch zu allen Fehlern, die ich getan habe. Ja, ich hätte in dieser Situation das zwischen uns nicht zulassen dürfen, aber Jin, ich habe alles ernst gemeint, was ich zu dir gesagt habe. Darauf kann ich dir mein Wort geben."
Wir wussten beide ganz genau, dass es nicht darum ging, auf welcher Seite wir standen, sondern ein und allein um Vertrauen. Vertrauen, bei dem ich nicht wusste, ob ich es noch in ihn hatte. „Ich habe nicht einmal deinen richtigen Namen gekannt, also was von dem Nathan Walker, den ich die letzten Monate kennengelernt habe, ist wirklich der Nathaniel Montgomery, der gerade vor mir steht?"
„Ich war immer ich selbst, als ich bei dir war. Bei dir habe ich mich nicht verstellt." Er strahlte eine solche Ernsthaftigkeit aus, dass ich ihm glaubte.
Erst als Jorden das Wort erhob, wurde mir wieder bewusst, dass er, Raven und Lennox anwesend waren. „Ähm, braucht ihr den Zettel jetzt noch?", hackte er vorsichtig nach.
Ich brauchte länger als ich wollte, um meinen Blick von Nathan abzuwenden. „Ich glaube, ich warte auf Liam, sorry", murmelte ich und versuchte so schnell wie möglich den Raum zu verlassen.


13:02 Uhr; Hauptquartier von Xernox

Ich zuckte heftig zusammen, als ich hinter mir die Tür laut zufallen hörte und wirbelte herum. Ich hatte Raven oder Lennox erwartet, die mir gefolgt waren, aber nicht Jorden. Er hatte eine Zigarette zwischen den Lippen und war gerade dabei diese anzuzünden, als er aufsah und mich entdeckte. „Oh, sorry, wusste nicht das du hier bist", nuschelte er, während er das Feuerzeug wegpackte und dann erst die Zigarette aus dem Mund nahm. „Störe ich?"
„Was? Nein, ich wusste gerade nur nicht wo hin mit mir", erwiderte ich schulterzuckend und wollte schon von der kleinen Mauer herunterklettern, auf die ich mich gesetzt hatte. Diese lag direkt an einem der vielen kleinen Hinterausgänge des HQ, wo ich mich gerade hin zurückgezogen hatte, um meinen Gedanken einen Moment in Ruhe nachhängen zu können.
„Ich wollte dich nicht vertreiben", hielt Jorden mich auf, als ich fast von der Mauer runter war.
Fragend sah ich zu ihm, woraufhin er nun er mit den Schultern zuckte. „Ich rauche hier nur immer in der Pause. Darf ich mich zu dir setzten?"
Ich nickte und beobachtete ihn kurz, als er sich mit etwas Abstand neben mich auf der Mauer niederließ. „Lennox und Raven suchen dich übrigens."
Ich wollte nach meinem Handy greifen, als mir einfiel, dass ich dieses gar nicht mehr dabeihatte. Das Risiko war mir zu groß, dass mich irgendwer darüber orten konnte. Außerdem hätte ich eh weder die Nummer von Raven noch die von Lennox gehabt.
„Soll ich ihnen kurz schreiben, dass du einen Moment Ruhe brauchst?"
Zögerlich lächelte ich ihn an. „Ja, das wäre super."
Nachdem Jorden sein Handy wieder weggesteckt hatte, merkte ich, dass er mich von der Seite musterte. „Was ist?", fragte ich ihn deswegen.
Er zog einmal an der Zigarette, so dass diese aufglimmte, eh er antwortete. „Ich glaube, ich verstehe nur gerade, warum Nathaniel so seltsam ist, seit er wieder hier ist."
Ich kniff die Augen zusammen. „Wie gut kennst du Nathan?"
„Ziemlich gut. Ich war seine Kontaktperson, während er bei den Rebellen ermittelt hat. Mit Liam direkt hat er nur gesprochen, wenn es wirklich wichtig war." Einen kurzen Moment schwiegen wir beide, eh er mich wieder eindringlich musterte. „Läufst du eigentlich immer weg, wenn es kompliziert wird?"
„Bist du immer so direkt, wenn du Leute nicht kennst?", entgegnete ich nüchtern, da ich gerade keine Lust auf eine weitere Diskussion hatte. An seinem Grinsen erkannte ich allerdings, dass er mich nur etwas aus der Reserve locken wollte.
„Wie lange kennst du Nathan schon?", überging ich seinen kleinen Seitenhieb.
Kurz überlegte er und blickte gen Himmel. „Seit drei Jahren. Seitdem gehört er zu meinem Squad. Die zwei Jahre davor hatte er noch eine andere Kontaktperson." Aus dem Augenwinkel warf er mir einen ernsten Blick zu. „Ich weiß nicht, was zwischen euch vorgefallen ist und mich geht das auch gar nichts an, aber was Nathan dir vorhin gesagt hat, meinte er auch so. Jedes Mal wenn er in den letzten Monaten kurz hier war, um mit mir und Liam zu sprechen, haben ihn Gewissenbisse wegen dir geplagt. Er wollte dich aufklären, aber wir haben befürchtet, dass wir dich damit noch mehr in die Schusslinie von Marver bringen."
Als ich nicht darauf antwortete, sagte er noch etwas, das mich nachdenklich werden ließ. „Ich glaube, du hast gerade weniger ein Problem mit Nathan selbst, sondern eher, dass du dich immer noch nicht endgültig entschieden hast, ob du bei Xernox bleibst oder nicht."

SKYLINE - VerschwörungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt