Prolog

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07.10.2018

Der Himmel wird von grauen Wolken bedeckt und dunkelt die Stadt ab. Der Nebel lässt sie verblassen, während der Sturm sie durchmischt. Der sonst so stille Friedhof wird heute Nacht von tiefen Schluchzern eines jungen Mannes erfüllt. Erst einer, dann zwei und letztendlich unzählig viele, die erklingen, sobald die vergangenen abgeklungen sind. Die Klänge vermischen sich mit dem Regen, der laut herabfällt. Rhythmisch treffen die kleinen Wassertropfen auf Dächer und Böden und bilden Pfützen. Mal Große und manchmal auch nur ganz kleine.
Schleichend bildet sich mit jedem fallenden Tropfen eine um den Körper des jungen Mannes, während er selbst durchnässt wird. Sein Kopf lehnt an dem kalten, nassen Grabstein seiner verstorbenen Seelenverwandten.
Sein Körper bebt und zittert unaufhaltsam vor sich hin, doch es stört ihn nicht. Er genießt es, zu wissen, noch etwas fühlen zu können und nicht nur von der vollkommenen Leere eingenommen zu sein, die er seit dem Tag ihres Davongehens in sich trägt. Er genießt die Lautstärke des Regens, weil sie die Welt für diesen Moment leiser wirken lässt.
Nur sind seine Gedanken lauter. Jedes Jahr, sobald der Herbst seine Türen öffnet und der, jedes Mal einzigartige, Geruch des Regens vermehrt aufsteigt, kommt auch dieser unerträgliche Schmerz, wie ein Messerstich direkt ins Herz, zurück. Ohne Vorwarnung. Ohne Ankündigung. Ohne Erlaubnis.
Er fragt sich, ob es ihr dort gut geht, wo sie jetzt ist und ob es besser ist, als hier. Was hätte er tun müssen, damit sie noch bei ihm wäre? Wie hätte er es verhindern können? Tag für Tag, Nacht für Nacht jagen ihn diese wohl für immer unbeantworteten Fragen und er kann ihnen nicht entfliehen.

Sie spaziert durch die Anlage des Friedhofs, besuchte bereits das Grab ihres Liebsten. Um sie herum zahlreiche, individuell gestaltete Gräber. Gepflegte und ungepflegte. Manche von haufenweisen Blumen bedeckt, andere ganz kahl. Und unter jedem Grab liegt eine verstorbene Seele. Manchmal eine ganz junge, oft aber auch schon eine viel ältere. Der eine hatte sein Leben noch vor sich, der andere lebte seins durch. Wie unfair die Welt doch ist, denkt sie sich.
Müde schaut die junge Frau in die Dunkelheit und umfasst den Regenschirm in ihrer Hand fester, bis ihre Knöchel weiß hervorblicken. Das macht sie immer, sobald sie über den Weg aus Sand läuft. Immer weiter geradeaus, ohne Ziel, denn niemand wartet mehr auf sie, was ihr jedes Mal schmerzhaft bewusst wird.
Dem Fall des Regens auf den Stoff ihres Regenschirms lauschend und den Geruch dessen tief einatmend nimmt sie irgendwann ein entferntes Schluchzen wahr. Mit jeden weiteren Schritt wird das Geschluchzte lauter - ihre Schritte bedachter. Von weitem erkennt sie bereits eine Silhouette, die an einen kleinen Grabstein gelehnt sitzt. Mit genügend Abstand geht sie vorsichtig auf die Person zu. Sie will sie schließlich nicht erschrecken oder grob in ihre Privatsphäre eindringen. Mit zusammengekniffenen Augen erkennt sie, dass es sich um einen jungen Mann handelt, der diese tiefen, verzweifelten Schluchzer in die Nacht lässt. Sie war schon immer sehr neugierig und wirft daher einen kurzen, aber ausreichenden Blick auf den dunkel marmorierten Grabstein, der von einer Laterne sanft beleuchtet wird. Ein Mädchenname ist in goldener, geschwungener Schrift in den Stein graviert und darunter zwei Daten. Ihr Geburts- und Todestag. Das Mädchen ist sehr früh gestorben, stellt sie bedauernd fest. Sie hätte ihr ganzes Leben noch vor sich gehabt.
Die junge Frau kann nicht anders und geht dichter an den jungen Mann heran. Sie konnte Menschen noch nie leiden sehen - will immer helfen. Aber sie weiß auch, dass Hilfe nicht immer angenommen wird. Das kennt sie von sich selbst. Nach dem Tod ihres Liebsten kapselte sie sich komplett ab, verkroch sich in ihren vier Wänden und verließ die Wohnung nur, wenn es nicht anders ging. Sie steckte in ihrer persönlichen Dunkelheit fest.

Er spürt die junge Frau neben sich, doch regt sich nicht - hofft, sie würde bald wieder gehen.
Doch das tut sie nicht. Stattdessen lässt sie sich, ohne zu zögern, neben ihm im nassen Gras nieder.
Einen Moment bleibt es still, bevor sie zu sprechen beginnt.
„Vermissen Sie sie?"
Sie flüstert diese drei Worte vorsichtig.
Eine gefühlte Ewigkeit ist es still. Dabei vergehen nur wenige Sekunden. Sie glaubt schon, er habe sie nicht gehört, doch dann atmet er zittrig, aber tief durch und kneift die Augen gequält zusammen.
„Die ganze Zeit", flüstert er rau zurück und fährt mit seiner unruhigen Hand mehrfach durch sein nasses Haar.
Wieder ist es ruhig. Weitere Minuten, in denen einzig und allein der Regenfall zu hören ist.
Irgendwann öffnet er die Augen, starrt in den mittlerweile neonschwarzen Himmel, der von einzelnen strahlenden Sternen geziert ist, bevor er zu der jungen Frau blickt.

Sie schaut ihn an. Er schaut sie an.

Ihre geröteten grünen Augen passen zu ihren dunkelroten, lieblichen Lippen.
Seine arktisblauen Augen haben mehr Dunkelheit, als alle dunkelbraunen Augen, die sie je gesehen hat.

„Jede beschissene Sekunde." haucht er in die Nacht hinein, bevor er sich erhebt und in der tiefen Schwärze der Finsternis verschwindet.

PetrichorWo Geschichten leben. Entdecke jetzt