Ayla
Stille umhüllt uns. Jeder ist mit seinen Gedanken beschäftigt und bereitet sich gerade womöglich auf das, was uns gleich erwartet, vor. Die zierliche Rose wird von meiner Hand erdrückt, die Anspannung ist unerträglich. Sie durchströmt stechend meine Venen und steigt konstant. Mit jedem Schritt.
Ich atme, doch habe das Gefühl, keine Luft zu bekommen. Als würden Backsteine auf meiner Brust liegen.Plötzlich durchzieht Wärme meinen zitternden Körper. Ich sehe, wie Luc seine große, männliche Hand vorsichtig auf meine legt. Sie verschwindet geradezu in seiner und ohne mein Zutun lockert sie ihren Griff um die Rose.
„Es ist alles okay", murmelt er und sieht auf mich herab. Er übt etwas Druck aus, symbolisiert mir, dass er es ernst meint, aber als ich ihn ansehe und die Leere in seinen Augen erkenne, merke ich, dass er von seinen Worten selbst wenig überzeugt ist. Denn er weiß, dass wir weit davon entfernt sind. Doch er zwingt sich ein Lächeln auf. Für mich. Um mich zu beruhigen. Dabei ist er unglaublich angespannt und ich kann nicht anders, als meine freie, eiskalte Hand auf seine zu legen.
„Es ist alles okay", wispere ich zurück.
Gleichzeitig atmen wir tief ein und aus und hören dem Knirschen der Kiessteine unter unseren Sohlen zu.
Wir kommen an einer Stelle an, an der sich unsere Wege trennen müssen.
Luc muss nach links.
Ich nach rechts.
Unerwartet zieht Luc mich in seine Arme und flüstert mir leise zu, dass wir uns an dieser Stelle einander wiedersehen. Dass wir das beide schaffen.
Dann lässt er von mir ab und wir gehen wortlos zu den Gräbern unserer Liebsten.
Du packst das, denke ich mir.
Es ist alles okay, wiederhole ich Luc's Worte gedanklich.
Nach einer gefühlten Ewigkeit komme ich vor dem Grab zum stehen und kämpfe bereits mit den aufsteigenden Tränen.
Ich lege die Rose zu den anderen und betrachte das Bild vor mir.
Regentropfen laufen den glänzenden Grabstein hinunter. Es erinnert mich daran, wie ich als Kind immer den Regentropfen zugesehen habe, wie sie die Fensterscheibe runtergelaufen sind und welcher zuerst das untere Ende erreicht hat.
Auch jetzt duellieren sie sich, nur, dass es kein Fenster ist, an welches dieses Wettrennen stattfindet.„Hey, ich bin's." Damit verfalle ich in meinen typische Redeschwall. Ab und zu halte ich inne, wenn ich merke, dass meine Stimme bricht, kein Laut mehr meine Lippen verlässt und meine Augen sich mit Tränen füllen. Ich versuche sie wegzublinzeln, beiße fest auf meine Unterlippe und starre das sanfte Grau des Himmels an. Für einen Augenblick sitze ich völlig abwesend da - wie in Trance und unterdrücke meine Tränen, um weitersprechen zu können.
Ich weiß nicht, wie lange ich nun schon vor dem Grab hocke und mich ständig zwischen reden und stumm sein bewege, aber es fühlt sich unendlich lange an.
Als das letzte Wort gesprochen und die letzte Tränen geflossen ist, stehe ich auf. Langsam entferne ich mich von dem traurigsten Anblick, den ich kenne, ohne nochmal zurückzublicken.
Ich laufe zu der Stelle, an der Luc und ich uns getrennt haben und kann nicht glauben, was ich sehe. Er steht wirklich da, auf mich wartend und sieht mich mit einem leichten Lächeln an. Beim näher kommen erkenne ich seine glasigen, geröteten Augen und die Trauer hinter seinem Lächeln. Ihm ging es eben offensichtlich nicht anders und es beruhigt mich, zu wissen, dass er mich versteht. Denn ich sehe wahrscheinlich keinen Funken besser aus.
Auf einmal beginnt ein erneuter Schauer und die grauen Regentropfen verschleiern unsere Sicht. Gleichzeitig schließen wir unsere Augen. Manchmal ist das die schönste Möglichkeit, nicht zwischen Realität und Traum unterscheiden zu müssen. Einfach nur zu fühlen und dem beruhigenden Trommeln des Regens zu lauschen.
Kurz öffne ich meine Augen und sehe Luc an, wie er da steht und den Regen auf sein Gesicht prasseln lässt. Ihn erfreulich empfängt. Seine Züge wirken so viel entspannter und genau jetzt denke ich, dass der Regen etwas ist, was uns verbindet.
Diese klitzekleine Freiheit in dem abscheulichen Sturm.
Der himmlische Geruch danach.
Er ist wie eine innige Umarmung, die die Sorgen für einen Moment wegwischt.
Wir fühlen uns mit ihm verbunden und lieben ihn vielleicht deshalb.
Lange hält der Schauer nicht an und mit dem letzten Tropfen öffnet auch Luc wieder seine Augen.
Er räuspert sich.
„Wollen wir?" Lächelnd sieht er mich an und nachdem ich zugestimmt habe, verlassen wir die Anlage.
„Darf ich fragen, wo du lang musst?"
„Jetzt nach links und dann eine ganze Weile nur geradeaus", beschreibe ich den Weg weniger elegant, was ihm ein kleines Lachen entlockt.
Er nickt und zusammen gehen wir den beschriebenen Weg entlang.
„Wo musst du hin?", frage ich ihn, als wir zwischen den zwischen den häuserzeilen aus rotem Backstein laufen.
„Gleich, wenn die Neubauten kommen, muss ich noch ungefähr zehn Minuten laufen."Als wir die das letzte Haus hinter uns lassen, bleibe ich vor dem ersten Neubau stehen und ziehe meinen Schlüssel aus meiner Manteltasche.
„Hier wohnst du?" Erstaunt betrachtet er das Haus und dann mich.
„Exakt." Ein leises Lachen verlässt meine Lippen.
Auf einmal scheint ihm etwas bewusst zu werden, denn er betrachtet das Haus noch genauer.
„Ist alles okay?" Ich folge seinem Blick, sehe aber nichts, was meine Aufmerksamkeit erregt.
„Ja, alles okay."
Es ist still, während ich die Haustür aufschließe.
„Darf ich dich etwas fragen?" Er wirkt etwas nervös, was an dem kneten seiner Hände deutlich wird.
„Natürlich."
„Hast du Lust, vielleicht mal mit mir etwas essen zu gehen?" Er kratzt sich am Hinterkopf, was seiner Nervosität zugegebenermaßen ziemlich süß aussieht.
Mein Herz hämmert sofort unaufhaltsam in meiner Brust und ich spüre Unsicherheit.
Soll ich?„Ja, sehr gerne."
Sein Lächeln wird breiter und er kommt die drei Schritte, die zwischen uns liegen, auf mich zu, bevor er mich das zweite Mal heute in seine Arme zieht.
„Nimm dir Freitagabend ab 19 Uhr nichts vor", flüstert er mir zu.
„Werde ich nicht," verspreche ich ebenso im Flüsterton, ehe er wieder etwas Abstand zwischen uns bringt.
„Bis dann, Ayla."
„Auf Wiedersehen, Luc."
Und damit verschwinde ich im Wohnhaus.Sobald ich die Wohnungstür hinter mir schließe, muss ich das alles erstmal sacken lassen und realisieren.
Er hat mich soeben um ein Date gebeten, oder?
Oh mein Gott.
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Petrichor
Teen FictionPetrichor beschreibt den Geruch von Regen auf trockener Erde. Alles beginnt im Regen, alles endet im Regen. Mal fällt er ganz plötzlich auf uns hinab, mal bereitet uns der von schweren Wolken bedeckte und kuntergraue Himmel darauf vor. Und manchmal...