Ayla
Die graue Wolkenmasse über mir teilt sich, ein Schauer läuft meinen Rücken entlang und durchtränkt mich von Kopf bis Fuß. Ich spüre den Druck jedes einzelnen Tropfens auf meinem Körper und meinem Gesicht. Das Wasser fließt unaufhaltsam von mir herab, doch wann störte mich das jemals?
Mit gestreckten Armen stehe ich da, lasse alles von mir spülen. All den Schmerz, die Traurigkeit und die Tränen.
Ich sehe der Welt zu, wie sie langsam ihre Farbe verliert, wenn es dunkler wird. Der Regen spielt leise Laute. Eine wunderbare Melodie, der ich unaufhörlich zuhören möchte.
Meine salzigen Tränen küssen den süßen Regen.
Sie hinterlassen keine Gravur.„Du kommst zur Zeit ziemlich oft, liebes."
Rosie legt ohne zu zögern eine rote Rose vor meine Nase, bevor sie sich auf ihren Händen abstürzt und mich mit ihren grauen Augen mustert. Tropfen fallen von meinen Haaren und meiner Kleidung. Meine Wangen sind bestimmt rötlich gefärbt, während mein Körper vor sich hin zittert.
Ich sehe sie an. Traurigkeit huscht prompt über ihr Gesicht. Sie geht durch die kleine Tür ins Hinterzimmer und kommt nur wenige Wimpernschläge später mit einem schwarzen Klappstuhl und eine cremefarbenen Decke zurück. Ich werde auf den Stuhl gedrückt und gebeten, meinen nassen und schweren Mantel auszuziehen. Mütterlich wirft sie die Decke über meine Schultern und bringt meinen Mantel in den separaten Raum, um ihn auf die Heizung zu legen.„Wieder eine schwere Phase?" Ihre warme, sanfte und liebliche Stimme klingt wie Musik in meinen Ohren, als sie zurückkommt und sich durch die Pflanzen schlängelt.
„Sag mir, Rosie. Wann war es je leicht?" Mit erhobener Augenbraue starre ich auf die Rose, die ich zwischen meinen Fingern hin und her drehe, während ich jedes einzelne ihrer wunderschönen Blätter betrachte. „Wann?", murmle ich und sehe die kleine, Mitte sechzig jährige Frau an.
Sie atmet tief durch, ist wahrscheinlich auf der Suche nach den richtigen Worten, ehe sie den Kopf schüttelt und die Schultern kaum merklich sacken lässt.
„So jung und so kaputt. Wie unfair das Leben sein kann. Und doch müssen wir nach seinen Regeln spielen. Aber das Leben geht weiter, vergiss das nicht. Egal was geschieht. Sein Tod ist schrecklich, keine Frage, aber die Welt dreht sich weiter und du musst ebenfalls weitermachen. Man ist niemals bereit für sowas und dann zieht es einen den Boden unter den Füßen weg. Wir wanken und manchmal fallen wir auch sehr tief in die Dunkelheit.
Doch ich verspreche dir, dass der Tag kommen wird, an dem du wieder aufstehst. An dem du beginnst dein Gleichgewicht wieder zu finden und dich aufzurichten. Du wirst einen holprigen Weg gehen und vielleicht auch nochmal fallen, aber es ist ein Anfang. Er wird dir den Mut geben, dich wieder ins Leben zu kämpfen.
So war es bei mir. Hab ich dir die Geschichte mit Henry erzählt?"
Zustimmend nicke ich sie, bevor sie weiterspricht.
„Jedenfalls war es doch so ähnlich wie bei dir und siehe da, ich stehe hier und bin glücklich. Natürlich vermisse ich ihn. Gott, wie sehr ich ihn vermisse, aber ich bin aufgestanden und habe mich zurück ins Leben gekämpft. Er hätte nicht gewollt, dass ich mein einziges Leben damit verbringe, um etwas zu trauern, was niemals mehr zurückkommen wird. Es klingt hart, aber wir müssen es realistisch sehen und so viele Menschen halten mich, wenn ich zu fallen drohe und ich weiß, dass deine beiden Freunde auch nicht zögern würden, dich zu halten.
Aber ganz ehrlich? Auch, wenn ich es akzeptiert habe, bleibe ich manchmal stehen, wenn ich sein Parfum rieche oder sein Auto sehe. Wenn sein altes Lieblingslied läuft, halte ich immer noch für einen Moment die Luft an und spüre, wie mein Herz ein paar Schläge aussetzt. Manchmal tut es weh, wenn jemand seinen Namen sagt, vor allem wenn ich einen schlechten Tag habe. Es wird niemals vorbei gehen, es wird nur einfacher und erträglicher. Glaub der alten Frau vor dir. Ich hab das alles schon durch."
Aufmunternd lächelt sie mich an und zwinkert mir zu.„Die Stadien der Trauer lassen sich super an einer Parabel erklären, meinte meine ehemalige Psychologin einst. Zuerst spürst du den Verlust und den Schock, bis du später bei der Wut und der Angst ankommst und immer näher zum absoluten Tiefpunkt - der Einsamkeit und Depression - wanderst. Erst wenn du aus dieser Phase entkommen bist, geht es wieder nach oben. Hoffnung, neue Stärke und vielleicht auch eine neue Beziehung werden dich auf dem Weg treffen. Du musst nur bereit sein, sagte sie.
Ich erlebte jedes dieser Stadien, allerdings nicht so, wie sie es erklärte, sondern komplett durcheinander. Nach der Wut spürte ich zum Beispiel ein Funken Hoffnung, bevor mich die unheimliche Angst einnahm. Es war so kompliziert, aber irgendwann schaffte ich es und du schaffst das auch. Ich weiß, das sage ich dir ständig, aber ich werde es solange machen, bis es so ist."
Gerade setze ich an, etwas zu sagen, als die Eingangstür geöffnet wird und ein Mann im dunkelgrünen Mantel und einer tief ins Gesicht gezogenen Kapuze eintritt. Kühle Luft jagt durch den kleinen Blumenladen und lässt mich erschaudern. Mit jedem Schritt, den er auf den Ladentisch zugeht, hinterlässt er nasse Fußspuren auf den Fliesen.
Rosie fährt mit ihren kleinen Händen durch ihre grauen Locken, ist professionell wie immer und lächelt bereits freundlich.
„Hallo, wie kann ich ihnen helfen?"Ich sehe mich in dem kleinen Blumenladen um und tue so, als würden mich die zahlreichen bunten Blumen wahnsinnig interessieren. Ich will gerade einen wild gemixten, aber wunderschönen Strauß in die Hand nehmen, als mich die Stimme des Mannes inne halten lässt.
„Eine weiße Rose, bitte."
Der tiefe, raue Klang hallt in meinen Ohren und ich muss mich zurückhalten, den Kopf nicht ruckartig in die Höhe zu reißen.
Kurz herrscht Stille, in der Rosie wahrscheinlich die Rose vorbereitet. Es ist so still, dass das Fallen einer Stecknadel problemlos zu hören wäre. Langsam hebe ich meinen Kopf und sehe direkt in arktisblaue Augen. Luc.
Er sieht mich an, wie ich in der Decke eingekuschelt auf dem klapprigen Stuhl sitze und fröstele.
„Hey", spricht er leise und ich erwidere seine Begrüßung in der selben Lautstärke. Luc blickt auf die Rose in meiner Hand und nickt wissend.
„Wollen wir vielleicht zusammen gehen?" Er flüstert es so leise, dass ich ihn beinahe überhöre, aber ich nicke.„Hier, bitte." Rosie hält die weiß leuchtende Rose in die Höhe, die Luc ihr vorsichtig abnimmt.
„Rosie? Kannst du meinen Mantel holen?"
Erschrocken sieht sie mich an. „Aber der ist doch noch gar nicht trocken!", ruft sie und sieht dann zwischen Luc und mir hin und her. Ohne noch etwas zu sagen, verschwindet sie im Hinterzimmer und kommt mit meinem Mantel wieder. Ich werfe ihn mir über und lege die Decke sorgfältig zusammen.
„Bis dann, Rosie."
„Bis dann, liebes."Während Luc schon im Türrahmen steht, hält Rosie mein Handgelenk fest und sieht mich grinsend an. Ich schüttle nur stumm lachend den Kopf und folge Luc in die Kälte.
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Petrichor
Teen FictionPetrichor beschreibt den Geruch von Regen auf trockener Erde. Alles beginnt im Regen, alles endet im Regen. Mal fällt er ganz plötzlich auf uns hinab, mal bereitet uns der von schweren Wolken bedeckte und kuntergraue Himmel darauf vor. Und manchmal...