Luciano
Der kühle Wind trifft meine Haut, sobald ich aus der überfüllten und stickigen Straßenbahn steige. Mein Atem wird sichtbar, meine Fingerspitzen werden kalt. Der Himmel ist so bedeckt wie immer, aber kein Tropfen fällt. Vielleicht ist es ja nur eine Frage der Zeit, bis die dunkelgrauen Wolken diese schwere Last nicht mehr halten können und es heftig zu regnen beginnt. Für einen Moment setze ich mich auf eine Bank am Straßenrand. Unbeteiligt zwischen Menschen und Geschäftigkeit, während die dröhnende Musik aus meinen Kopfhörern in meine Ohren dringt und alles andere stumm stellt. Aber auch, damit die Melodien meine eigenen Gedanken übertönen. Doch sie reagieren auf meinen Versuch und werden ebenso lauter und schlimmer. Müde und sehnsüchtig blicke ich die Unendlichkeit über mir an, warte auf die ersten Tropfen, bevor die Wassermassen folgen. Auf den Sturm, damit ich mich verstanden fühle. In mir tobt auch ein fürchterlich wütender Sturm und es fühlt sich gut an, wenn es draußen genau so aussieht. Doch es passiert nichts.
Ich sitze hier womöglich erst wenige Minuten, vielleicht aber auch schon ganze Stunden, in denen ich starr den dunkelbunten Himmel betrachte und der Musik lausche. Aus meiner Gesäßtasche ziehe ich mein Telefon. Fünf Uhr nachmittags.
Ich stehe auf und laufe durch die Straßen. Orangene Laternen und grelle Leuchtreklamen der Geschäfte erhellen die Straßen ein wenig und viele Menschen kommen mir entgegen. Ich sehe ihre Gesichter. Monotone, lächelnde und traurige. Wie es diesen Menschen wohl geht? Was haben sie in ihrem Leben erlebt? Manche laufen mit aufrechten Gang und einer selbstbewussten Haltung durch die Welt, andere mit eingezogenen Schultern und auf den Boden gerichteten Blicken. Sie alle haben ihre eigenen Gedanken, eigenen Geschichten und eigenen Probleme, mit denen sie sich rumschlagen müssen. So viele Geschichten an einem Ort und keiner kennt die des anderen. Wir sind geprägt von schönen Momenten, als auch schlimmen Begebenheiten.
Ich laufe weiter, mustere die zahlreichen Häuser zu meiner linken und rechten. Hauptsächlich Backsteingebäude zieren die Straße, bevor die Neubauten ihren Platz übernehmen.
Auf dem Weg durch die Wohnsiedlung bleibe ich plötzlich verwundert stehen und konzentriere mich auf das aktuelle Lied in meinen Ohren. Töne mischen sich in das Lied ein, von denen ich weiß, dass sie nicht zu dem Lied gehören. Ich nehme die Kopfhörer aus meinen Ohren und mein Blick geht automatisch nach oben. Im ersten Stock des ersten Neubaus ist ein Fenster geöffnet und mir wird klar, dass dort jemand Klavier spielt. Ich lehne mich an die weiße kahle Wand des neuen Wohnhauses und lausche dem Hall des Instruments mit geschlossenen Augen. Schon immer war ich von dem beruhigenden Klang fasziniert und hörte meiner Schwester unheimlich gerne beim Spielen zu. Meine Mutter, eine Pianistin, brachte es ihr sehr früh bei, während ich mich, rebellisch wie ich war, geweigert hatte, es zu erlernen. Mir fehlte das Talent dazu, das wusste ich bereits, als ich zum ersten Mal vor diesem Instrument saß und die Kälte der Tasten an meinen Fingerkuppen spürte. Wenn meine Finger sie berühren, verkrampfen sie sich und die Melodie hackt unschön. Ich kann es nicht so fühlen, wie man es fühlen sollte.
Mein Talent liegt im Zeichnen. Es ist die einzige Sache, bei der ich mich, wenn ich es tue, nicht fühle, als müsste ich etwas anderes machen. Zeichnen ist Träumen. Wenn ich zeichne, träume ich. Die Zeichnung ist die Ernte meines Traumes. Sie bleibt, auch wenn mein Traum zu Ende ist und ich mich nicht mehr daran erinnern kann, was ich da eben geträumt habe. Ich erschaffe mir eine bessere Welt. Lasse mich fallen und komme für diesen einen Moment auf andere Gedanken. Ich habe mich darin verliebt, denn ich kann Fehler einfach wegradieren und alles so gestalten, wie es mir gefällt.
Ich zeichne das Leben, während das Leben mich zeichnet.Der letzte Ton verklingt, das laute Schließen des Fensters folgt. Mein Zeichen zu gehen. Ich stoße mich von der Wand ab, sehe ein letztes Mal zu dem besagten, nun geschlossenen, Fenster und setze meinen Weg fort. Mit der Kapuze tief in Gesicht gezogen, laufe ich über den Asphalt.
Nach wenigen Metern tritt ein kleiner Park in mein Sichtfeld, zu dem mich meine Beine automatisch hinführen. Zwischen zwei Bäumen mit noch dichten Baumkronen steht eine kleine altaussehende Holzbank, auf der ich mich niederlasse. Aus der Tasche meines Mantels krame ich mein zerfleddertes Notizbuch, löse den Gummizug, der es zusammenhält und schlage eine offene, unbenutzte Seite auf. Sobald ich den Bleistift auf dem Papier ansetze, schalten sich meine hässlichen Gedanken aus. Stattdessen denke ich an die Melodie von eben. Male mir ein Bild aus, wie es hinter dem Fenster ausgesehen haben könnte.
Ein elegantes Klavier findet seinen Platz auf dem Blatt. Auf dem Klavierhocker sitzt eine Frau. Langes Haar fällt über ihren geraden Rücken. Ich übe mal mehr, mal weniger Druck aus, um dem Bild mehr Dimensionen zu geben. Ihm mehr Macht und Aussagekraft zu verleihen.
In meinen Gedanken stelle ich mir vor, wie die Frau in majestätischer Haltung vor dem Instrument sitzt und es lebt. Sich an der unaufhaltenden Ekstase verzehrt, wenn sie ihrer Leidenschaft nachkommt. Wie sie die Augen schließt und jeden Klang fühlt. Sich darin verliert und dafür brennt. Ein wahres Naturtalent, das die Menge in einer großen Halle binnen weniger Sekunden um den Verstand bringt und ihre Herzen stiehlt. Zwischen Augen, Ohren und Herzen, die bezahlen, um zu erleben, was sie nicht können.Ich entferne den Stift vom Papier und halte das Notizbuch eine Armlänge von mir entfernt. Ein Funken Zufriedenheit erfüllt mich. Es ist genau so geworden, wie ich es mir vorgestellt habe.
Ich schlage es zu und lasse es in meiner Tasche verschwinden.
Der Wind pfeift und jagt durch die Äste. Ich stelle mir vor, dass sie da ist, um nach dem Rechten zu sehen. Sie ist kurz zu Besuch, sieht mich an und schüttelt wahrscheinlich traurig den Kopf, als die tiefschwarzen Augenringe und die unendliche Kälte in meinen Augen, die das Elend in meiner Seele widerspiegelt, sieht.
Es tut mir leid, denke ich mir, aber es tut so weh.
Dann stehe ich auf, gehe und lasse den Park hinter mir.

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Petrichor
Teen FictionPetrichor beschreibt den Geruch von Regen auf trockener Erde. Alles beginnt im Regen, alles endet im Regen. Mal fällt er ganz plötzlich auf uns hinab, mal bereitet uns der von schweren Wolken bedeckte und kuntergraue Himmel darauf vor. Und manchmal...