Kapitel 1

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Ayla

Achtundachtzig Tasten. Jede von ihnen klingt unterschiedlich. Erst wenn man sie verbindet und ihnen eine Stimme gibt, haben sie die Kraft, einen in eine andere Welt zu entführen. Und einen Alles um sich herum vergessen zu lassen. Es ist meine Art mich auszudrücken. Den Schmerz, den ich fühle, drücke ich musikalisch aus. Nur für mich. Mit dem Moment seines Fortgehens wurde auch mein Mut genommen, vor anderen zu spielen. Ich kann nur spielen, wenn ich alleine bin. So oft habe ich versucht, anderen etwas vorzuspielen, doch kurz bevor meine filigranen Finger die kühlen Tasten berühren, fangen sie heftig zu zittern an. Nach mehreren Anläufen habe ich es aufgegeben und niewieder erneut gewagt.

Aber jetzt gerade, wo ich alleine in meinem Schlafzimmer vor dem Instrument sitze, fliegen meine Finger gekonnt über die Tasten. Yirumas Kiss the Rain erfüllt den kleinen Raum. Mit geschlossenen Augen fühle ich die Melodie, als wäre es meine eigene. Die Gedanken kreisen und ein immer stärker werdendes Brennen hinter meinen Augen macht sich bemerktbar. Ich denke an jene Nacht zurück, wo wir lachend unter dem fallenden Regen getanzt haben. Zu der Melodie unserer Liebe. Unsere Klamotten wurden von der Kälte der Tropfen durchtränkt, unsere eng aneinander gepressten Körper wärmten uns. Ich fühlte mich so frei und unbeschwert wie nie zuvor. In diesem Moment fühlte sich alles richtig und das Leben so bunt an. Er gab mir das Gefühl, geliebt und begehrt zu werden. Gebraucht zu werden. Stumm rinnen die Tränen über meine Wange und fallen auf meine Handrücken. Ich lasse mich fallen, gebe meinen Emotionen die Erlaubnis. Bis meine Finger wehtun und es an der Tür klingelt spiele und weine ich. Als die Klingel ein zweites Mal erklingt, erhebe ich mich von dem Hocker und wische meine Tränen weg. Auf dem Flur atme ich tief ein und aus, bevor ich den Summer betätige und auf Jane warte. Getrampel ist im Hausflur zu hören und nur wenig später steht sie vor mir auf der Fußmatte, auf der sie ihre Schuhsohlen abstreift.


„Meinst du nicht, es wäre hervorragend, einfach mal wieder die Sau raus zulassen? Du weißt schon. Zu feiern, die Hüften im Takt schwingen zu lassen und einfach mal nicht nachzudenken?"
Die perfekt nachgezeichneten Augenbrauen meiner besten Freundin ziehen sich zusammen, als sie meine Skepsis erkennt. Sie schaut mich durch den Spiegel an, vor dem sie sitzt und ihr normalerweise glattes, schwarzes Haar in einzelnen Strähnen um einen Lockenstab wickelt. Ihre hellbraunen Augen fixieren mich, während ich hinter ihr auf meiner Bettkante sitze, die Haare unordentlich zusammengebunden und noch im Pyjama. Für mich gab es keinen Grund, mich in andere Klamotten zu werfen. Stumm schüttle ich den Kopf. Warum sollte ich in einen nach Schweiß und Alkohol stinkenden Club gehen, wenn ich es mir hier gemütlich machen kann? Alleine.
„Du lässt dich total gehen. Was ist denn dabei, ein wenig zu feiern? Komm schon. Gib dir den Ruck und komm mit. Ich verspreche dir auch zu gehen, wenn du dann nicht mehr willst und ich bleibe die ganze Zeit an deiner Seite."
Mittlerweile kniet sie bettelnd vor mir, trägt ein leichtes Schmunzeln auf den Lippen.
„Ich weiß nicht..." Doch auch bei mir bildet sich ein schwaches Lächeln auf den Lippen, was sie direkt als Zusage deutet. Mist, wie hat sie das geschafft?
Etwas erschrocken über mein schnelles Nachgeben schleicht sie eine gewisse Panik in meinen Kopf, doch mir bleibt keine Zeit, mich großartig herauszureden.

Wie von der Tarantel gestochen, springt sie auf und rennt zu meinem Kleiderschrank. „Also...weil du ja praktisch wieder eine Jungfrau im Thema Feiern bist, gehen wir es dezenter an. Ich hab auch schon das perfekte Outfit gefunden!"
Jane hängt halb im Kleiderschrank, wodurch ihr beginnender Redeschwall nur noch gedämpft zu hören ist.
„Weil ich weiß, dass du Mini-Kleider hasst, glaube ich, dass dieses Top mit der engen Hose und den schwarzen High Heels bombastisch an dir aussieht und auch zum Feiern passt."
Zufrieden legt sie mir die Sachen auf den Schoß und beginnt dann, in den Schubladen meines Schminktisches rumzuwühlen und diverse Produkte rauszuziehen.
Währenddessen schäle ich mich langsam aus meinen gepunkteten Pyjama und streife mir die schwarze, enge Jeans mit zwei aufgerissenen Stellen, als auch das ebenfalls schwarze Satin-Top mit Spitze am Ausschnitt über. Obwohl mir gefällt, was ich im Spiegel sehe, fühlt es sich komisch an. Lange bestanden meine Outfits aus lockeren Hosen und irgendwelchen Hoodies, die mir viel zu groß waren. Klamotten, die meine Figur nicht betonten. Beinahe habe ich vergessen, wie ich eigentlich aussehe.
„Los komm...hopp hopp. Keine Zeit nachzudenken. Du siehst fabelhaft aus, aber deine Haare sind noch nicht bereit und ein bisschen Schminke, die deine Augen strahlen lässt, darf auch nicht fehlen." Freudestrahlend zerrt sie mich an meinen Schminktisch und drückt mich auf den Stuhl. In Rekordzeit zaubert sie mir ein dezentes Make-up ins Gesicht und lockt meine braunen Haare in Windeseile. Manchmal bin ich fasziniert davon, wie schnell sie jemanden ausgehtauglich machen kann. Ich hätte Stunden gebraucht, mich so herzurichten, während sie keine 20 Minuten benötigt hat. „Tony holt uns gleich ab", gibt sie kund und verstaut meine Schminke wieder an ihren gewohnten Ort.

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