Zwei

42 2 1
                                    

Wie lange ist es her? Seit wann seid ihr weg?
Genau seit einem Monat. Und es schmerzt. Es schmerzt immer noch. Als wäre es gestern gewesen.
Seit einem Monat fühle ich mich wie eine lebende Leiche. Ich weiß nicht mehr weiter.
Und jedesmal stehe ich hier vor ihnen und weiß nicht was ich sagen soll. Jedesmal weine ich und spüre die Schmerzen. Bis heute konnte ich kein Wort aus meinem Mund bringen. Ich wusste nicht wieso und weshalb. Vielleicht, weil ich wusste, dass keine Antwort kommen würde? Allerdings sollte das heute ein Ende sein. Ich würde heute mit ihnen reden. Meine Schmerzen erzählen. So wie es mir Leyla gesagt hat. Danach wäre ich auch bereit dazu mit Aras hierher zu kommen. Ich musste es machen. Es wird mir zwar schwer fallen. Allerdings musste ich es tun. Mit zwei roten Rosen lief ich zu deren Grab. Metin Özdemir und Derya Özdemir. Ich legte beide Rosen auf deren Grab und setzte mich hin. Lange sah ich deren Grabsteine an. Jetzt Liya. Rede.
„Mama, Papa, es tut mir Leid", brachte ich aus meinem Mund raus und schluchzte im nächsten Moment. „Ich habe mir versprochen nicht zu weinen. Ich möchte mit euch reden. Ich weiß ihr werdet mir nicht antworten. Aber ich weiß auch, dass ihr mir wie immer zuhört. Also ich hoffe es zumindest. Ich weiß gar nicht wo ich anfangen soll. Seitdem ihr weg seid, führe ich kein gescheites Leben mehr. Mama du würdest jetzt vielleicht schimpfen, weil ich wieder so viel abgenommen habe. Aber glaub mir dieses Mal bin ich nicht auf Diät. Welch eine Ironie. Ich bekomme kaum was runter. Ich bin überfordert. Leyla ist seit einem Monat bei uns. Sie lässt uns nicht alleine. Aber Aras. Aras redet nicht mehr. Er redet mit keinem mehr. Es tut mit so weh. Mein Herz schmerzt jedesmal, wenn ich mit ihm rede und er mir nicht antwortet. Er war doch so ein lebensfrohes Kind. Ich weiß nicht, was ich tun soll, damit er wieder redet. Aber ich denke er braucht auch seine Zeit."
Ich machte eine kurze Pause und redete danach weiter.
„Meine Mädels sind auch immer da. Allerdings habe ich keine Nerven mehr, mich mit Menschen zu unterhalten und so zu tun, als ob nichts passiert wäre. Und neben ihnen möchte ich auch nicht mehr weinen. Deswegen habe ich mich etwas abgekapselt. Ich denke es wird mir gut tun. Papa meinte ja immer, dass ich das tun soll, was mir gut tut. Ich denke, dass ist zurzeit das einzig richtige, was ich machen kann. Ich habe so Angst. Ich habe Angst. Und ich gebe das zum ersten mal offen und ehrlich zu. Ich weiß nicht, wie ich das Leben ohne euch führen soll. Wie ich mit Aras umgehen soll. Wie ich mit meinen Problemen umgehen soll. Ich weiß es nicht. Ich habe bis heute alles mit euch überstanden. Ihr wart bei jedem Problem, welches ich hatte immer bei mir. Ihr habt mich unterstützt und zusammen haben wir es dann überstanden. Mit wem soll ich jetzt meine Probleme überstehen? Ich weiß es nicht. Ich bin am verzweifeln. Wirklich. Ich komme nicht mehr nach. Ich bin überfragt. Ich muss für Aras stark bleiben. Aber manchmal fühle ich mich so schwach, da kann ich sogar Aras nichts vortäuschen. Nachts kann ich sowieso kaum schlafen. Ich träume immer wieder von unserem letzten gemeinsamen Tag. Ich erinnere mich jedesmal an unsere Gespräche zurück. Und jedesmal weine ich. Ich kann nichts anderes außer weinen. Ihr wisst, dass ich sowieso sehr nah am Wasser gebaut bin. Und das fordert mich noch mehr heraus. Ich möchte, dass ihr wisst, dass ich alles versuche um eine gute Schwester für unseren Sonnenschein werde. Ich versuche stark zu bleiben. Ich versuche nicht zu weinen. Welch eine Ironie, dass ich gerade weine, während ich euch diese Versprechen gebe. Aber zählt heute nicht dazu. Heute ist ein besonderer Tag. Heute darf ich weinen. Denn heute ist der Tag, wo ich mit euch rede und ihr mir nicht antwortet. Und es ist keine so einfache Erfahrung. Der Gedanke, dass es ab heute immer so sein wird bringt mich um. Aber es ist so wie es ist. Ich wünsche nur, dass ich euch an diesem Tag aufgehalten hätte wie immer und ihr gar nicht aus dem Haus gehen würdet. - Naja. - Das nächste Mal habe ich vor Aras mitzunehmen. Vielleicht wird er anfangen zu reden. Also ich hoffe es. Aber ich weiß echt nicht, wie ich ihm das Ganze bewusst machen soll, dass ihr unter dieser Erde liegt. Das wird ein schweres Erlebnis sein. Aber ich bin die ältere und ich muss stark sein. Ich wünsche mir nur, dass ihr auf uns stolz seid. Wir werden für euch kämpfen. Schließlich wart ihr diejenigen, die uns immer Mut zugesprochen haben.
Ach und unsere lieben Familienangehörige haben mich wieder einmal nicht enttäuscht. Sie sind weiterhin hinter dem Geld her. Nur Tante Arzu hat uns mal angerufen und nachgefragt wie es uns geht. Ansonsten interessieren wir sie wenig. Aber würden sie anders handeln würde es mich schocken. Ich denke ich sollte aufhören zu reden und wieder zurück nachhause gehen. Aras ist zuhause mit Leyla. Er hört einfach nicht auf Leyla. Das bekommen wir aber schon irgendwie hin. Also ich hoffe es zumindest. Ich liebe und vermisse euch. Bis zum nächsten Mal."
Ich wischte meine Tränen weg und machte mein Gebet. Danach stand ich auf und verließ das Friedhof. Die Tränen, die ich unterdrückte, kamen nacheinander. Ich konnte sie kaum stoppen. „Hör auf Liya. Wein nicht", schimpfte ich mit mir. Allerdings nützte es nichts. Die Tränen kamen alle hintereinander. Mein Herz fühlte sich wieder so schwer an. Die Schmerzen, die ich unterdrücken wollte, kamen alle wieder hoch. Es sollte endlich ein Ende haben. Wann würde ich mich an diese Schmerzen gewöhnen. Während ich mit schnellen Schritten lief, rempelte ich jemanden an. Sofort sah ich hoch und entschuldigte mich von der Person. Bevor die Person etwas erwidern konnte, lief ich weg. Ich rannte schon regelrecht. Ich wollte einfach nachhause. Die ganzen Blicke der Menschen fühlte ich auf mir. Es war störend. Sehr sogar. Aber ich verstand sie. Man sieht nicht jeden Tag ein weinendes, hilfloses Mädchen durch die Gegend rennen.

Für immerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt