PULCHRITUDO

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Octavia sah aus ihrem Fenster. Die Perspektive, die sich ihr bot war faszinierend. Sie hatte den Ausblick aus diesem einen Fenster so oft gemalt, er war an den Wänden ihrer kleinen Einzimmerwohnung dutzendfach aufgehängt. Immer hatte sie versucht, die Großstadt so beklemmend darzustellen wie sie tatsächlich war. Wie sie es wahrnahm. Aber gelungen war es nie. Eine neue Schattierung Grau, ein paar andere Wolken hatten nie die wahre Stimmung der Szene. Als sie auf dem kleinen Stuhl stand, sah sie die Szene jedoch das erste mal von schräg oben. Verwunderlich, wie viel sich dadurch änderte. „Egal." seufzte sie nach einigen Minuten. Alles egal. Sie fühlte sich gerade so sinnlos wie schon lange nicht mehr. Der ewige Kreislauf ihrer Woche. Sie rannte in die Mensa, aß jeden Morgen das selbe Brötchen, dann in die Vorlesung, Seminar, Vorlesung und wieder nach Hause um sich auf den nächsten, komplett identischen Tag vorzubereiten. Schon lange hatte sie mit dem Sinn ihres Studiums gekämpft, aber es geschafft immer wieder Gedanken zu unterdrücken. Gedanken, die sie zum Wechsel bewegen wollten, Gedanken an eine Welt, in der alles besser, das Kunststudium so wie sie es sich vorgestellt und ihre Kommilitonen tatsächlich Inspirationen, und nicht nur andere Menschen wären. Ihr Frust baute sich auf, ballte sich als kleine, gemeine Faust um ihr Herz und schien sie zu ersticken. Dann trat sie den Stuhl unter sich weg. Sofort knirschte ihr Genick und alles wurde schwarz vor ihren Augen. Doch Octavia fühlte nichts. Sie hatte sich den Tod als unendliche Schmerzen und Leiden vorgestellt, aber da war gar nichts. Nur das Säuseln von Wind, der ihre Nase streichelte. Als sie langsam die Augen öffnete, saß sie auf einer Wiese. Blumen blühten hier, einige Bäume ragten aus dem Gras. Alles war so scharf, alle Kanten waren klar... und das obwohl sie ihre Brille nicht trug. Sie stand langsam auf. Ihre Gelenke knackten, ihre Wirbelsäule klang wie Luftpolsterfolie als sie sich streckte. „Wo zum Teufel bin ich überhaupt?" fragte sie sich laut. Wege erstreckten sich durch die Wiese. Einige Menschen liefen herum und unterhielten sich, eine alte Dame saß auf einer Parkbank und las Zeitung, eine Gruppe Kinder spielte auf dem Gehweg. „Entschuldigen sie, wo sind wir hier?" fragte sie so höflich es ging einen blonden Mann, der vorbei ging. Doch er ignorierte sie einfach. „Idiot." murmelte sie. Octavia wanderte auf die alte Frau zu. „Guten Tag, Miss. Wissen sie zufällig wo wir sind?" die Frau lugte über ihre Zeitung und sah sie tadelnd an. „Geht da weg! Die armen Blumen!" rief sie. Octavia schaute erst erschrocken auf ihre Füße und drehte sich dann herum. Sie sah die Kinder hinter sich beschämt von der Wiese gehen. Fassungslos sah sie zurück zur Frau und winkte energisch mit ihrer Hand vor ihrem Gesicht herum. Sie verzog keine Mine. Ebensowenig die Kinder oder irgendjemand anderes. „Fuck! Was ist das für ein Schwachsinn hier!" schrie sie.

Stunden des Wanderns durch die Stadt hatten Octavia nur zwei Erkenntnisse beschert: erstens, sie war, alles zusammen gerechnet, kein Mensch mehr. Ihr Körper hatte sich verabschiedet, sie fühlte keinen Hunger, Durst oder Schmerz. Niemand konnte sie sehen oder hören. Und zweitens, sie befand sich noch immer in Jadfurth. Hier hatte sie studiert, hier war sie am Bahnhof angekommen vor 3 Jahren und dachte, dass sich hier ihr ganzes Leben verändern würde. Sie wollte in den Fußstapfen von Picasso oder Michelangelo wandeln, wundervolle Szenen einfangen oder die ganze Welt an ihren Gefühlen teilhaben lassen. Grün, Gelb, grelle und bunte Farben. Es hatte ein ganzes Semester gedauert, bis sie in der Realität angekommen war. Die ersten Schwarztöne schlichen sich in ihre Gemälde. Doch dadurch bekamen sie nur noch tiefe. Sie waren interessanter als vorher. Im dritten Semester hatte sie ihre Schmerzen entdeckt. Rot, blutig und dick mischte sich mit dem Schwarz in ihren Gemälden. Viertes Semester. Das Leben fing an, keinen Sinn mehr zu ergeben. Sie wusste nicht mehr für wen sie hier überhaupt studierte. Die Motive wurden abstrakt und entfremdet. Fünftes Semester. Sie hatte ihr Motiv gefunden. Wie Manet tausendfach die selbe Kirche gemalt hatte, malte sie tausendfach den Blick aus ihrem Appartement. In verschiedenen Paletten, zu verschiedenen Zeiten. Und im sechsten Semester kamen Depressionen. Farben verschwanden fast vollständig, Blau- und Grautöne dominierten die immer gleiche Fensterszene. Octavia verstand selber nicht so richtig, was überhaupt mit ihr passiert war. Vom Bahnhof bis auf den Stuhl, auf dem sie sich das Genick gebrochen hatte, waren ihr die drei Jahre wie ein Fiebertraum vorgekommen in dem sie keine Entscheidungsgewalt über irgendetwas hatte, nicht mal über ihren Tod am Ende. Vielleicht war sie einfach ausgebrannt, ihre idealistisch schillernde Kunst von der brutalen Realität zerquetscht. Oder sie war einfach auf ihren Tod zugedriftet, wie sich ein Lied immer mehr steigert und schließlich nach dem lautesten, mächtigsten Punkt in sich zusammenfällt. Der letzte Paukenschlag ihres Lebens war wahrscheinlich schon geplant gewesen, als sie den Bahnhof von Jadfurth betreten hatte. Sie wanderte zu ihrer Wohnung zurück. Die Straßen kamen ihr noch grauer und dumpfer vor als sonst immer. Nun, da sie nicht mal riechen konnte und einfach durch Menschen hindurch ging, war ihr Einfluss auf die Welt so deutlich gering, dass ihr die Tränen kamen. Auf dem Weg nach Hause weinte sie bitterlich. Ihre Tränen waren nur Illusionen, sie verschwanden sofort, nachdem sie auf dem Boden auf kamen. Aber es half. Schluchzend beruhigte sie sich langsam. Als sie um die finale Ecke zu ihrem Haus bog, sah sie schon mehrere Polizeiwagen stehen. Die Feuerwehr sperrte gerade die Straße ab. Kurz dachte Octavia ernsthaft, dass diese Aufmerksamkeit ihr gewidmet war. Doch dann sah sie das Feuer, das aus dem Reihenhaus schlug. Wie ironisch, dachte sie sich. Nicht mal ihr Selbstmord würde bemerkt werden, nach dem Feuer würde man davon ausgehen, dass sie durch Zufall gestorben war. Ihre Eltern würden nicht einmal ihre Kunst sehen. Niemand würde ihre Bilder zu Gesicht bekommen, keiner ihren Weg in die Depression verstehen. Das brachte sie zum Lachen. „Wie verfickt ironisch das Leben ist!" schrie sie. „Was du nicht sagst." antwortete der rothaarige Junge neben ihr.

Urban AngelsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt