CAPTIVUS

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„Lila, danke verdammt. Pass auf: du musst mich umbringen." „beruhig dich, Judas. Ich bring dich hier raus." Judas stand in der kleinen Gewahrsamszelle und sah elend aus. Die grauen Gasbetonsteine vermittelten genau so wenig  einen freundlichen Eindruck wie die anderen Gefangenen in der Zelle. „Nein, Lila, du verstehst mich nicht. Wenn du mich tötest, kann ich hier raus." „Ja, ist mir schon klar Judas. Aber du willst ja auch weiter leben." er schlug frustriert gegen die Gitterstäbe, doch genau in dem Moment betrat ein Polizist die Untersuchungshaft- Zellen. Lila sah sich hektisch um. „Ich... ähm... sie fragen sich bestimmt wie ich..." doch der Mann marschierte geradeaus an ihr vorbei. Dann zog er seine Pistole. „Ach du scheisse, ach du scheisse!" schrie Lila. „Nehmen sie die Waffe runter!" die anderen Leute schauten den Polizisten erschrocken an, keiner bewegte sich. „Ich... kann nicht..." flüsterte der Polizist. „Ego sum Bernn." sagte er leise. „Was?" fragte Lila. „Ego. Sum. Bernn." kam jetzt von ihm, dies mal entschlossener. Er zielte auf einen der Männer in der Zelle. „Ego sum Bernn, Ego sum Bernn!" rief er jetzt schon. Vor Angst wie gelähmt schauten sich alle die Szene an. Dann schoss er. Ohne wirklich darüber nachzudenken, einfach im Reflex warf sich plötzlich Judas vor die Menschenmenge. Alles lief wie in Zeitlupe ab: als Judas' Kopf auf dem Boden aufschlug, hatte Lila den Polizisten schon umgeboxt. Doch Octavia sah auf Judas' Leiche auf dem Boden. Er löste sich langsam auf. Vor der Zelle bildete sich auf einmal ein Wirbel, und man sah Judas Zelle für Zelle wieder neu entstehen. „Lila, alles gut." sagte Judas. Sie schreckte auf. „Jey! Dir gehts gut!" sie umarmte ihn stürmisch. „Wie hast du das gemacht?!" „du kannst das auch Lila. Ich hab rausgefunden wie das geht." „wie geht es denn!" schrie Octavia. „Ich bin hier gefangen ihr Idioten!" "Warum verratet ihr eurer Freundin denn nicht wie sie sich manifestieren kann?" fragte da einer der Männer in der Zelle. Er hatte einen grau melierten Dreitagebart und kurze, schwarze Haare. „Octavia!" sagte Judas erschrocken. Besagte Octavia stand mit offenem Mund da. „Sie sehen mich?" er schmunzelte. „Ihr seid ja richtig frisch, hm? Na komm junge. Mach die Zelle auf, dann gehen wir spazieren."

Der ältere Mann hieß Ryan. Nachdem sie die Zelle aufgeschlossen und aus dem Hintereingang der Polizeiwache geschlichen waren, hatte er die drei durch enge Seitengassen gescheucht, bis sie irgendwann ein verlassenes Wohnhaus betraten. Der Putz blätterte von den Wänden, vieles war mit Graffitis besprüht. Die Bilder zeigten jedoch Engel, Götter, Szenen aus der Bibel und aus alten Sagen. Da war eine Isis mit Horus als Kind in den Armen, direkt daneben Maria mit dem Jesuskind in der Krippe. „Was sind das für Bilder? Wer hat die gemalt?" fragte Octavia interessiert. Ryan, der sie ja als einziges hörte, ließ seinen Blick über die Bilder streifen. „Hoffnungen. Die Hoffnung, dass irgendein Gott da draußen ist. Irgendein Sinn für den wir leben." Lila und Judas sahen sich zweifelnd an. Octavia legte ihre durchscheinende Hand auf das Bild von Horus. Plötzlich durchzuckten sie Erinnerungen wie Blitze, ein junges Mädchen das diese Szene gemalt hatte. Bevor Octavia sich jedoch mehr Gedanken machen konnte, zog Ryan eine Tür auf und machte eine ausladende Geste. „Ladies und Gentleman, ich präsentiere Eden." der Raum war mehr so das Gegenteil von dem, wie man sich das Paradies so vorstellte. Hier sah es eher aus wie in einem sehr alten und vergessenen Jugendclub. Zerschlissene Couches standen ohne Ordnung herum, zwei Mädchen spielten ein Videospiel auf einem uralten Fernseher, der an der Wand befestigt war. Es roch leicht moderig. Dafür war der Raum jedoch riesig. Man hatte alle Wände im Erdgeschoss eingerissen (aus dem Boden ragende Wandrümpfe bezeugten diese Umbaumaßnahme) und aus den vielen Wohnungen die hier mal waren einen langen Raum gemacht. „Es ist, ähm... speziell." sagte Judas höflich. „Na gut es ist nicht viel. Aber es ist eine Zuflucht für Menschen wie uns. Engel." „bitte was?" lachte Lila. „Ich bin sicherlich kein Engel." „oh glaub mir, das denkt jeder hier von sich. Aber wir sind zu etwas höherem auserwählt Lila." „Von Gott?" fragte Octavia. Ryan und ein paar Engel in seiner Nähe lachten auf. Ein breitschultriger Mann stand von der Couch auf und kam auf Octavia zu. Er baute sich bedrohlich vor ihr auf. „Wer hat diese dumme Bitch hier rein gelassen? Gott macht keinen verfickten Mucks. Und wenn ich den Hurensohn sehe schlag ich seinen Schädel in den nächsten Tisch, kapiert?" Ryan stellte sich sofort zwischen die beiden. „Ey ey, ruhig hier. Sie ist neu, Mann." der Kerl schnaubte. „Ich hab gesehen wie so ein paar Typen meine beiden Töchter zu Tode geprügelt haben." er zeigte mit einem Finger auf Octavia: „Schlag dir diese Ideen von Gott aus dem Kopf. Der Wichser ist tot oder komplett erfunden." damit drehte er sich herum und setzte sich wieder auf die Couch. „Er hat leider recht. Gott ist, aller Wahrscheinlichkeit nach, tot." „Was? Willst du implizieren, dass es mal einen gab?" fragte Judas lächelnd. „Du bist ein kleiner Wissenschaftler, oder? Solche wie sich gibts selten. Aber ja, es gab mal einen Gott. In den alten Zeiten, Antike und so, hat sich jeder Engel wie ein eigener Gott aufgespielt. Sie liefen unter ihnen und vollbrachten Wunder, dafür wurden sie angebetet. Sie konnten einander nichts tun, denn Engel sind unsterblich. So lange bis sie aufhören wollen zu existieren. Doch irgendwann kam ein Engel, der anders war. Er hatte die Macht, andere Engel erstarren zu lassen. Er machte sie einfach zu Statuen. Diesen Engel nannte man Jesus. Er brauchte drei ganze Tage um dahinter zu kommen, wie man sich manifestiert. Dann entschied er sich, eine Religion zu machen, die ihn als einzigen Gott anbetete. Die Idee des Monotheismus gab es davor natürlich schon. Das Judentum hat existiert, aber davor auch schon der Pharao Echnaton und so weiter. Aber Jesus gründete den einen Glauben, der wegen seiner Macht bestehen sollte. Doch Irgendwann entschied sich Jesus dazu, sein Amt abzugeben und aufzuhören zu existieren. Er transferierte seine Kräfte auf einen anderen Engel und ging. Und dann nahm die Geschichte ihren Lauf. Mit jeder Generation wurde Gott stärker, da er alle Fähigkeiten der Götter vor ihm erbte und dazu noch seine eigene, zufällige Fähigkeit besaß, die er dann an den nächsten Gott weiter gab." „Hey Moment, was meinst du mit eigener Fähigkeit?" unterbrach Lila. „Jeder Engel bekommt eine eigene, zufällige Fähigkeit wenn er zum Engel wird." „eine zufällige Fähigkeit? So funktioniert die Natur nicht." sagte Judas. „Da muss es eine Regel geben." Ryan zuckte mit den Schultern. „Wenn es eine gibt hat sie noch keiner rausgefunden. Ich bin Polizist, Mann, kein Wissenschaftler. Wir haben nicht viele Intellektuelle hier, die so was rausfinden könnten." er schwieg für ein paar Sekunden, um seinen Faden wieder zu finden. „Auf jeden Fall ist Gott eines Tages verschwunden. Wann weiß keiner genau, warum weiß erst recht niemand. Ich war kein Engel als Gott noch da war, aber mehr weiß ich auch nicht." Judas hatte einen angestrengten Gesichtsausdruck aufgelegt. Lila unterbrach die Erzählung. "Was ist das vorhin eigentlich gewesen? Der Mann wollte sie umbringen, und sie waren bis jetzt sehr nonchalant darüber." "Das ist eine schwierige Geschichte. Wir haben lange geforscht, und bis jetzt haben wir einen namen immer wieder gehört. Bernn. Verschiedenste Ausführungen- Pater Bernn, Doktor Bernn oder einfach nur Herr Bernn. Immer wenn sein Name irgendwo auftaucht, sterben die unseren. Engel wie wir." "Moment. Wir werden gejagt? Warum sollte jemand Engel jagen? wir sind doch schon tot." schaltete sich Octavia nervös ein. "so sieht's aus. warum weiß ich nicht. Aber Bernn und seine Agenten- sie nennen sich 'der Kreis'- töten weltweit Engel." Lila nahm den in Gedanken versunkenen Judas am Arm und zerrte ihn beiseite. "Können wir einen Moment unter vier Augen sprechen?" fragte sie barsch. Ryan nickte still und ging weiter in den Raum hinein. "Was ist das hier, Judas? Wo sind wir hinein geraten?" "Lil, ich bin genau so verwirrt wie du. Lass uns erst mal hier bleiben, es sieht aus als wären wir sich..." "auf keinen fall, wir verschwinden sofort!" "beruhig dich, was ist denn los?" "es wurde auf dich geschossen, Judas, das ist los. Wenn diese leute gejagt werden, denkst du es ist schlau in einer riesigen menge davon zu bleiben?" "hast du eine bessere idee?" zischte Judas verärgert zurück. "Ja. Das Shoreleaf, draußen in der Vorstadt. Ein kleines Hostel. Dort beziehen wir ein Zimmer, ich hab genug Geld um uns dort eine Weile lang unterzubringen. Außerdem ist der Besitzer ein Freund von mir." Judas sah sich um. "Octavia. Hast du das gehört? Folg uns einfach unauffällig." Beim weg nach draußen bemerkte Judas den angestrengten Blick von Ryan, aber aufgehalten wurden sie nicht.

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