fünf - the doctor said

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Der Doktor sieht mich an und runzelt leicht die Stirn. "Alles gut", sagt er dann an meine Mutter gewandt, die erleichtert die angestaute Luft entweichen lässt. Alles gut. Natürlich. Mir fehlt ja auch nichts. Körperlich geht es mir gut, so rein theoretisch. Dass ich nun schon das dritte Mal diesen Monat mit Bauchschmerzen beim Arzt sitze liegt ja auch nicht an mir. Das liegt an den anderen. Meine Bauchschmerzen halten sowieso nur solange an, bis klar ist, dass ich nicht mehr in die Schule muss. Dass ich zu Hause bleiben darf und eine Pause bekomme. Eine Pause von den Blicken, von den Kommentaren. Eine kurze Pause von meinem Leben, das oft genug die Hölle zu sein scheint.

Dabei fehle ich nicht gerne, überhaupt nicht. Ich hasse es. Ich hasse es, zu fehlen und ich hasse es, anwesend zu sein.
Ich verstehe nicht, warum man vortäuscht, krank zu sein, wenn man es doch gar nicht ist. Ich verstehe nicht, wie man einfach so zu Hause sitzen kann, während eigentlich Chemie ist, oder Englisch.
Was würde ich dafür tun, diese Möglichkeit zu haben. Nur um sie rein theoretisch nutzen zu können, nicht um sie zu nutzen. Aus freiem Willen heraus aktiv entscheiden zu können, den Tag zu schwänzen.

Bei mir ist es aber anders. Ich möchte nicht fehlen, doch es gibt Dinge, die ich nicht beeinflussen kann. So gibt es Tage, an denen bestimmte Ereignisse sind, immer und immer wieder. Jede Woche aufs Neue. Ich kann es nicht verhindern, nicht aufhalten. Sie kommen wieder und wieder und verfolgen mich.
Dienstags der Sportunterricht, in dem ich immer komisch angeschaut werde, weil ich keinen Korb treffe, keinen Handstand schaffe und nach spätestens zehn Minuten Laufen fast zusammen klappe.
Mittwochs der Spanischunterricht am Nachmittag. Die Mittagspause verbringe ich alleine, denn es gibt niemanden, der bei mir sein wollen würde. Ich bin oft allein, das ist nicht das Problem. Aber mittwochs bin ich einsam. Das ist ein gewaltiger Unterschied.
Und das ist nur eine kompakte Auswahl, der Einfachheit halber.

Habe ich diese Tage geschafft, denke ich den Rest der Woche ständig darüber nach, dass das alles in ein paar Tagen wieder passiert, dass ich das alles wieder durchleben muss.

Die Blicke, die Kommentare, die Einsamkeit, die Sticheleien und Beleidigungen. Tag für Tag, Woche für Woche.

Mein Körper wehrt sich dagegen. Immer wieder wache ich mit Bauchschmerzen auf, die sind einfach da und ich habe das Gefühl, ich sterbe.
Es sind höllische Schmerzen, die sich auflösen sobald meine Mutter zugestimmt hat, mich zu Hause zu behalten. Dann sind sie von einer Sekunde auf die nächste verschwunden und alles ist gut. Regelmäßig sitze ich also hier, in diesem viel zu weißen Untersuchungsraum und höre dem Doktor zu, wie er meiner Mutter sagt, dass es mir gut gehe. Dass die Bauchschmerzen meine psychischen Schmerzen nach außen tragen, dass sie mein Inneres, meine Seele widerspiegeln, darauf kam noch niemand.

Denn wenn der Arzt sagt, dass es dir gut geht, dann muss das ja auch so sein.

"When the doctor says I'm fine
One at morning, one at night
These pills will help you remember how to smile
But what does he know?
'Cause I feel so alone
And mom and dad both tell me I'm alright
'Cause the doctor said you're fine"
~ Chloe Adams, The Doctor Said

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