„Das Leben ist einfach, einfach zu schwer
Es wäre so einfach, wenn es einfacher wär'
Ist alles Bestimmung, hat alles seinen Grund
Und du bist ganz still, hast einen Knebel in dem Mund"
Während Till Lindemann in dem rechteckigen Küchenradio vor sich hinsang, trug ich mit meiner Mutter und meinem Vater die letzten Kisten in meine neue Wohnung. Die Musik drang dabei lauthals in den Flur. „Carmen, stell mal das Radio leiser solange die Tür offen ist!" rief meine Mutter. Ein genervtes Augenpaar schaute mich an als ich aus meinem Schlafzimmer zurückkam. Schnell eilte ich in die Küche und dämpfte den Gesang von Lindemann bevor sich noch einer der neuen Nachbarn beschwerte. Es wäre nicht so gut keinen ersten guten Eindruck zu hinterlassen. Ich hatte im Leben schon genug durchgemacht. Außerdem sollte der Umzug nach Köln ein völlig neues Kapitel in meinem Leben aufschlagen. Nachdem alle Kisten verstaut waren in den jeweiligen Räumen sahen meine Eltern mich erwartungsvoll an. Sie standen dicht nebeneinander direkt vor mir. „Danke für eure Hilfe." Mit einem Lächeln im Gesicht setzte ich mich auf mein neues Sofa. „Kommst du dann alleine klar mit dem einräumen?" Natürlich machte sich meine Mutter Sorgen um mich. Ihr einziges Kind zog alleine in eine Großstadt. Weit entfernt von Zuhause. Ich nickte ihr nur flüchtig zu und brachte beide schließlich dann zur Wohnungstür.
Jetzt war wohl wieder einer dieser Momente im Leben, den ich am meisten hasste... Abschied. Das Wort an sich hört sich einfach so traurig an. Ich musste letztes Jahr genug davon ertragen zum Leid meiner Familie. Erst ist mein Opa von uns gegangen und einige Tage später meine Schwester. Man hatte keine Zeit dem einen Menschen hinterher zu trauern, da kam dann schon der nächste. Für unsere Familie war das eine harte Zeit. Wahrscheinlich ist sie es auch heute noch. So einfach kann man keine Trauer verarbeiten. Und so schnell kommt man auch über solch einen Verlust nicht hinweg. Ich weiß nicht welcher Tod tragischer war. Aber spielt das überhaupt eine Rolle? Jemanden zu verlieren, ist immer etwas schreckliches. Es gibt da draußen viele Menschen, die Angst vor dem Tod haben. Meine Schwester war jedenfalls nicht so ein Mensch. Trotz ihrer schweren Krankheit war sie immer gut drauf und hat das Leben geliebt. Dafür habe ich sie immer sehr bewundert. Mit jedem weiteren Tag, jedem Monat und jedem Jahr, was vergeht, vermisse ich sie immer mehr. Dieser Schmerz sitzt so tief in uns allen. Dennoch verspürten wir eine gewisse Erleichterung. Der Unterschied in beiden Schicksalsschlägen bestand darin, dass mein Opa sehr alt war und meine Schwester am Anfang ihres Lebens stand. Wenn jedoch jemand an einer unheilbaren Krankheit stirbt und zuvor nur noch gelitten hat, dann ist der Tod die Erlösung.
So standen wir also zu dritt als Familie gemeinsam an der Tür. „Wir werden dich vermissen, mein Schatz. Jetzt sehen wir uns nicht mehr jeden Tag." Ich musste etwas schlucken bei dem Satz. Ja, ab heute wird sich nun offiziell alles ändern. Es war Zeit für einen Neuanfang. Ein Neuanfang, der schon ziemlich lange überfällig war. Plötzlich begann meine Mutter zu schluchzen. „Es wird komisch sein, da du nun auch weg bist." Sie war ziemlich sensibel. Trotzdem konnte auch ich mir ein paar Tränen nicht verkneifen. Mein Vater rollte ein wenig mit den Augen. Er war nicht der Mensch, der seine Gefühle zeigte und dementsprechend genervt, wenn es andere taten. „Mach's gut." Ganz fest drückte ich meine Eltern. Mir wurde dabei so übel, aber das war sicher die Aufregung. Bevor sie endgültig das Treppenhaus verlassen hatten, winkte meine Mutter mir nochmals zu. Nun war es offiziell: Ich wohne ab heute alleine in meiner ersten eigenen Wohnung. Als wäre das nicht genug Aufregung beginnt auch nächsten Monat meine Ausbildung. Letztes Jahr hatte ich ein FSJ im Krankenhaus absolviert und es hatte mir so viel Spaß gemacht, dass ich entschieden habe vorerst nicht mehr zu studieren und eine Ausbildung zu machen. Eine Ausbildung zur ATA. Anästhesietechnischer Assistent. Die Zeit im OP damals war wirklich ziemlich aufregend. Jedes Mal bin ich mit Freude aufgewacht und mit Freude zur Arbeit gefahren. Ich hoffe, dass es mir hier genauso gut ergeht.
Lange hatte ich mit mir selbst gehadert, doch ich habe mich wieder dafür entschieden. Ich wollte trotz meines neuen Lebens wieder eine Psychotherapie anfangen. Bei dem Gedanken wurde mir einerseits schlecht, aber andererseits was soll schon passieren? Psychotherapie kann sinnvoll sein – vorausgesetzt das Verhältnis zwischen Patient und Therapeut stimmt. Meine vorherige Therapeutin konnte ich nicht wirklich ab. Dennoch hat sie es anscheinend geschafft mir zu helfen. Hoffentlich werde ich mit dem neuen Therapeuten etwas glücklicher. Nächste Woche hatte ich meinen ersten Termin. Besser ich trage es in meinen Kalender ein, der im Flur hängt. Manchmal war ich ziemlich vergesslich. Kurz warf ich einen Blick auf die Uhr. Hmm... genau 16 Uhr. Wäre doch eigentlich noch etwas Zeit ein wenig die Stadt zu erkunden. Zum Glück lag meine Wohnung in unmittelbarer Nähe zur Innenstadt. Ich zog mir meine Schuhe an, schnappte meine Jacke und meine Tasche. Nachdem ich die Wohnung abgeschlossen hatte, kam mir noch einer meiner neuen Nachbarn entgegen. Wir begrüßten uns und schon war ich draußen.
Ein mulmiges Gefühl hatte ich schon. Bereits nach einigen Minuten bemerkte ich den kleinen Schweißausbruch. Okay, beruhige dich! Du bist hier neu, du bist alleine, du musst dich erst einleben. Gewohnt war ich es nicht so weit weg zu sein von Zuhause. Meine Eltern hatten auch noch eine ungefähr 4 stündige Fahrt vor sich bis nach Hause. Ich lief etwas angespannt in Richtung Kölner Dom. Seine Spitzen ragten aus der Ferne über die Hohenzollenbrücke hinüber. Wenigstens bin ich auf dem richtigen Weg. Das beruhigte mich etwas. Naja fast... wenn da nicht dieses komische Bauchgefühl wäre. Als ob ich eine Vorahnung hätte. Ich lief weiter am Rhein entlang und kam schon bald am Rheinauhafen an. Dort kamen mir etliche Menschen entgegen. Das ist der Unterschied zum Dorfleben. In der Stadt bist du nur einer von vielen, aber im Dorf kennt dich fast jeder. Ich orientierte mich immer weiter am Rhein und näherte mich allmählich dem Dom. Doch dann sah ich etwas oder besser gesagt jemanden, der meine angespannte Stimmung noch schlimmer werden ließ.
Abrupt blieb ich stehen und beobachtete nervös die Person, die an einem Geländer lehnte und auf den Rhein starrte. Meine Handflächen begannen zu schwitzen, mir wurde schlecht. Ich bemerkte wie mein Herz schneller schlug. So aufgedreht war ich zuletzt bei der Beisetzung von meiner Schwester oder vor dem Umzug. Ist er es wirklich? Der junge Mann drehte sich rum und lief weiter. In meine Richtung. Direkt auf mich zu. Nein, man der hat mich sicher schon gesehen. Diese braunen Haare, diese braunen Augen. Wie konnte ein Mensch nur so attraktiv sein? Ich musste mich beherrschen mich nicht zu übergeben als er immer näherkam. Für einen kurzen Moment wünschte ich mir ich hätte mich getäuscht. Wahrscheinlich war ich schon kreidebleich und würde jeden Moment umfallen. Er zupfte an seinem beigefarbenen Oberteil rum bevor er fast in mich reinlief. Vorsichtig ging ich einen Schritt zurück. Er wandte seinen Blick wieder nach oben. „Carmen... hey was machst du denn hier?" Sofort nahm er mich in den Arm. Was ich in diesem Moment verspürte war ein echt schönes Gefühl. Langsam fuhr er mit seiner Hand über meinen Rücken. „Ich.. äh.. ich wohne seit heute hier." Seine braunen Augen schauten mich intensiv an und ich bekam dieses Kribbeln im Bauch. Zumindest fühlte es sich so an. Aus Reflex begann ich mit meiner Hand zu wedeln, da mir urplötzlich heiß wurde. „Ach echt? Ja Köln ist schon echt eine schöne Stadt." Ich versuchte vergeblich Blickkontakt mit ihm zu halten, aber er machte mich einfach so fertig. „Das stimmt wohl.." Und da war sie. Diese unangenehme Stille. Basti lächelte mich an und strich sich dabei kurz durch seinen Bart. Sollte ich noch etwas sagen? Oder mich verabschieden? Dieser Tag war definitiv verrückt. Ich ziehe nach Köln und dann treffe ich auch noch auf meinen Lieblingssänger aus meiner Lieblingsband. Das wäre alles nicht so schlimm, wenn da nicht dieses Gefühl von Verliebt sein wäre. Aber kann ich überhaupt jemanden lieben, den ich privat nicht weiter kenne?
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Mein Herz brennt
أدب الهواةWir alle waren mal jung und vielleicht auch naiv. Die einen erlebten ihre erste große Liebe, die anderen ihren ersten Kuss. Doch es gibt auch Menschen, die in ihren jungen Jahren schon einiges durchmachen mussten. Das Leben scheint für manche eben n...